Orthostase: Aufrechte Körperhaltung
ὀρθός = aufrecht, στάσις = Stehen, Stellung
Hydrostatischer Druckgradient
HIP: Hydrostatischer Indifferenzpunkt (venös, arteriell)
Körperlage und Blutvolumen
Hebt man die
Hand hoch, nimmt der Druck in den Venen ab, bis sie kollabieren - die
Venenbette sinken ein ("Grübchen" an der Haut). Senkt man die Hand,
steigt in ihnen der hydrostatische Druck, die Venen
füllen sich mit Blut (schwellen an) und werden deutlich sichtbar (>Abbildung).
>Abbildung: Venenfüllung in Abhängigkeit von Position / hydrostatischem Füllungsdruck
Michelangelo Buonarroti: David (Galleria dell’Accademia, Florenz)
Venen an gesenkter Hand durch den hohen hydrostatischen Druck gut gefüllt und deutlich sichtbar - an der erhobenen Hand kollabiert, weil der hydrostatische Druck unter dem Umgebungsdruck liegt
Zum Einfluss der Höhe der Messstelle auf das Ergebnis einer Blutdruckmessung s. dort.
In
allen flüssigkeitsgefüllten Räumen des Körpers (Arteriensystem,
Venensystem, liquorhältige Räume, Pleura-, Peritonealraum, etc) herrscht eine
hydrostatische Druckschichtung (Ausnahme: schwereloser Zustand, d.h.
freier Fall).
Das 1. Newton-Gesetz
sagt aus, dass ein Körper im Zustand des freien Falls schwerelos ist
(es treten keine hydrostatischen Druckunterschiede auf).
Bei einem auf
einer Unterlage stehenden Menschen ist der freie Fall jedoch durch Krafteinwirkung des Bodens auf den Körper – 2. Newton-Gesetz – verhindert (als stünde man auf einer Plattform, die durch Raketenkraft in Schwebe gehalten wird) und es tritt eine kopfwärts gerichtete Beschleunigung (relativ zum freien Fall) auf - die Gewebe (Blut) drücken aufgrund der Massenträgheit nach dem
3. Newton-Gesetz (actio = reactio) in die Gegenrichtung (fußwärts, wo der Blutdruck zunimmt -- Spezialfall:
Otolithen im Innenohr biegen Haarzellen in die Gegenrichtung der
einwirkenden Beschleunigung, d.h. bei aufrecht orientiertem Kopf
fußwärts).
<Abbildung: Gefäßdruckverteilung im ruhigen Stehen
Nach L.B. Rowell, Human circulation - regulation during physical stress. Oxford University Press 1986
Der
Druck im Arterien- und Venensystem ist hydrostatisch geschichtet. Je nach Höhe einer Meßstelle ergeben sich entsprechend
unterschiedliche Blutdruckwert.
Als "Nulllinie" wird gerne die Höhe bezeichnet, auf welcher der venöse
Druck dem Außendruck entspricht. Das ist bei einer aufrecht stehenden /
sitzenden Person üblicherweise in Herzhöhe der Fall. Der arterielle Druck ändert sich auf dieser Position auch bei Lagewechsel nicht (arterieller HIP), der venöse schon (venöser HIP in Oberbauchhöhe)
Ungleich der Gravitationskraft, deren Betrag proportional zur Masse
ist, ist die im Stehen auf Gewebe und Organe wirkende Beschleunigung
unabhängig von deren Dichte. Daher bleiben dichtere Masseträger stärker
zurück als weniger dichte, es kommt (soweit möglich) zu Relativbewegung
(tendentiell zu „Entmischung“ - wird durch die anatomischen Strukturen
weitgehend verhindert), in flüssigkeitsgefüllten anatomischen Räumen treten hydrostatische Druckgradienten auf.
Der hydrostatische Druckgradient beträgt (Abbildung links oben) pro Meter Blutsäule etwa 10 kPa = 75 mm Hg (genau genommen abhängig von der Blutdichte, die aber nur im Ausmaß von wenigen % variiert, vor allem mit dem Hämatokrit):
1 m H2O = 10 kPa = 75 mmHg |
Der Betrag einer hydrostatischen Druckdifferenz berechnet sich aus folgenden
Größen (>Abbildung):
Über einer Höhe, wo der Druck im Venensystem dem
Außendruck gleicht, wird der transmurale Druck negativ, was die Venen
kollabieren läßt (<Abbildung:
gehobener Arm), darunter werden sie durch den positiven transmuralen
Druck (Druck im Gefäß minus Druck außerhalb des Gefäßes) mit
Blut gefüllt und sind z.B. am Handrücken gut erkennbar.
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<Abbildung: Venenfüllung in Anhängigkeit von der Armlage (d.h. dem hydrostatischen Füllungsdruck)
Nach einer Vorlage bei Vick RL, Contemporary medical physiology, Addison-Wesley 1984
Streckt eine Person den Arm nach oben, sinken die hydrostatischen
Drucke entsprechend - die Venen kollabieren, der arterielle Druck im
Bereich der Hand sinkt auf ca. 30-50 mmHg. Sobald der
transmurale Druck negative Werte erreicht, kollabiert die Vene ("Venenbette eingesunken")
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Hydrostatischer Indifferenzpunkt (HIP)
Wirkt
auf den Körper eine Beschleunigungskraft ein - eine alltägliche
Situation, da der Untergrund, auf dem wir stehen, den freien Fall
verhindert (andernfalls wäre der Körper "schwerelos") und damit eine
nach oben gerichtete Beschleunigungswirkung ausübt -, dann ergibt sich
in flüssigkeitsgefüllten Räumen ein hydrostatischer Druckgradient: Der
Druck nimmt von "oben" (in Richtung der Beschleunigungswirkung) nach
"unten" (üblicherweise Richtung Erdmittelpunkt) zu.
InWas geschieht, wenn ein Körper seine Lage verändert, z.B. gekippt
wird? Wo befinden sich die Stellen, an denen der Druck gleichbleibt?
Unterscheidet sich diese Stelle z.B. zwischen Venen- und
Arteriensystem? Wie verhält sich ihre Position zu der zugehöriger Druckrezeptoren?
Der hydrostatische Indfifferenzpunkt HIP (bzw. die hydrostatische
Indifferenzlinie, s. unten) ist der Ort in
einem flüssigkeitsgefüllten Raum, in dem der hydrostatische Druck
bei Lageänderung (des Körpers) unverändert bleibt. Der hydrostatische Druck sinkt an Stellen
darüber (bezogen auf die Richtung der einwirkenden Beschleunigung) und steigt an Stellen darunter.
Die Lage des (je nach konkreter Lageänderung jeweils geltenden) HIP hängt im Körper von mehreren Faktoren ab:
Welcher Flüssigkeitsraum ist gemeint? (Arteriensystem, Venensystem, Pleuraraum, Liquorraum etc) - s. unten
Der Wechsel von welcher zu welcher Körperlage ist gemeint? (z.B. Liegen zu Stehen, Seitenlage, Kopf-Tief-Lage, ...)
In welchem Zustand
liegt der betreffende Flüssigkeitsraum vor? Z.B. abhängig vom
Füllungsvolumen (Infusion, Blutverlust, Dehydrierung), Stress
(Herzleistung, Vasokonstriktion) u.a.
Die Druckänderungen beziehen sich auf den rein hydrostatischen Effekt, d.h. auf den Zeitpunkt unmittelbar nach Lageänderung - bevor adaptive Anpassungsvorgänge (Änderung von Gefäßtonus, Herztätigkeit, neuraler und humoraler Reaktionen) stattfinden.
Die physiologischen Auswirkungen eines Lagewechsels können erheblich
sein (z.B. sinkt das Herzminutenvolumen nach einer Kippung liegend →
aufrecht physiologischerweise um bis zu ~35% ab). Die Lage
entsprechender Mechanorezeptoren relativ zu der des HIP bestimmt Art
und Ausmaß reflektorischer Reaktionen (z.B. Barorezeptoren, s. unten).
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Für das
Venensystem des
Menschen liegt der HIP für einen Wechsel zwischen liegender und
aufrechter Körperlage (beim Aufrichten oder Aufstehen) eine
Handbreit unter der Zwerchfellkuppel, also auf Höhe der oberen Baucheingeweide (Leber, Milz, Pankreas).
Das bedeutet u.a.,
dass
hier die Mikrozirkulation bei Lageänderungen
des Körpers von Druckschwankungen weitgehend verschont bleibt. Es
bedeutet auch,
dass beim Aufrichten der venöse Druck auf Herzhöhe
(Zentralvenendruck, right ventricular preload) abnimmt, was einerseits die
diastolische Füllung senkt (reduziertes Schlagvolumen!), andererseits
>Abbildung: Druck/Dehnungsrezeptoren liegen über "ihrem" jeweiligen hydrostatischen Indifferenzpunkt
Hinghofer-Szalkay H. Gravity, the hydrostatic indifference concept and
the cardiovascular system. Eur J Appl Physiol 2011; 111: 163-74
Deshalb ändert sich die Reizgröße an den Rezeptoren bei entsprechender Änderung der Körperlage
Im Arteriensystem liegt der hydrostatische Indifferenzpunkt (zwischen
Liegen und aufrecht) auf der Höhe der Vorhöfe. Das
bedeutet wiederum,
dass die darüber gelagerten Carotis-Rezeptoren beim
Aufrichten / Aufstehen geringer gereizt werden als im Liegen, was wiederum beim Aufrichten die
Herzfrequenz steigen läßt (Schellong-Test: orthostatische Reaktion);
dass bei der klassischen arteriellen Blutdruckmessung (Staumanschette am Oberarm, die automatisch etwa auf Herzhöhe liegt)
kaum Verfälschungen des arteriellen Drucks auftreten können (anders
als bei Messungen in der Peripherie, z.B. am Handgelenk, wenn ein Höhenunterschied zur Lage
der Vorhöfe besteht).
Hydrostatische
Druckgradienten und eine Stelle der hydrostatischen Indifferenz bestehen in allen flüssigkeitsgefüllten Körperhöhlen, z.B. in liquorgefüllten Räumen.
<Abbildung: Hydrostatische Indifferenzlinie bei Drehung um die Längsachse ("yaw") bzw. die Transversalachse ("pitch")
Hinghofer-Szalkay H. Gravity, the hydrostatic indifference
concept and the cardiovascular system. Eur J Appl Physiol 2011; 111:
163-74
Bei
einer Drehung des Körpers im Schwerefeld der Erde gibt es in seinen
flüssigkeitsgefüllten Räumen Orte gleichbleibenden hydrostatischen
Innendrucks ("hydrostatische Indifferenz"). In Räumen, die relativ nach
oben rücken, sinkt der Druck; in solchen, die nach unten rücken, steigt
er an
Orte hydrostatischer Indifferenz: Punkt, Linie oder Ebene?
In deutschsprachigen Physiologiebüchern geistert das Konzept einer hydrostatischen Indifferenzebene herum. Es wird behauptet, bei Lagewechsel bleibt der hydrostatische Druck innerhalb dieser Ebene konstant. Eine "Indifferenzebene" kann es aber nicht geben (>Review).
Wechselt z.B. eine Person vom Stehen in Rückenlage, nimmt der
hydrostatische Druck innerhalb der in den Lehrbüchern dargestellten
Ebene anterior ab, dorsal nimmt er zu - alles andere würde der Physik
widersprechen.
Es gibt zwei Möglichkeiten der geometrischen Verortung hydrostatischer Indifferenz:
Bei einfacher Kippung des Körpers (<Abbildung: bei Drehen um eine Achse, z.B. bei Aufrichten / Hinlegen: "pitch") bleibt der hydrostatische Druck entlang einer Linie konstant
-
darüber sinkt der
Druck, darunter steigt er an. Man kann dann von einer hydrostatischen
Indifferenzlinie sprechen, was zwar korrekt wäre, aber nicht üblich ist.
Bei kombinierter Änderung der Körperlage bleibt der hydrostatische Druck in einem Punkt (Hydrostatischer Indifferenzpunkt, HIP) unverändert. Dies ist das klassische Konzept, auch für einfache Drehungen, das sich in älteren Lehrbüchern findet.
Die physiologische Relevanz
dieses Konzepts ergibt sich vor allem durch die Reizmuster, welche bei
Lageänderungen des Körpers von Rezeptoren im Arteriensystem
(Barorezeptoren in Carotissinus und Aortenbogen) sowie im zentralen
Teil des Niederdrucksystems an das Kreislaufzentrum gemeldet werden (s.
oben) und entsprechende Reflexe auslösen (Herzleitung, peripherer
Gefäßwiderstand, hormonelle Reaktionen).
Übrigens: Im schwerelosen Zustand verliert das hydrostatische Indifferenzkonzept seinen Sinn - ohne (Schwere-) Beschleunigung kein hydrostatischer Druckgradient.
Körperlage und Blutvolumen
Das Aufrichten des Körpers hat auch Konsequenzen betreffend das Gleichgewicht der Filtrationskräfte in der Mikrozirkulation.
Wie die >Abbildung zeigt, nimmt bei Wechsel von sitzender (oder
liegender) zu stehender Körperlage der Hämatokrit rasch zu
(Bluteindickung), weil in den Körperregionen unterhalb der
hydrostatischen Indifferenz (unterer Bauchraum, Beine, Unterarme)
infolge des hier herrschenden erhöhten Kapillardrucks mehr Flüssigkeit
in das umliegende Gewebe gepresst wird (Starling-Gleichgewicht!) als
oberhalb vermehrt in die Kapillaren wandert (Kopf, Schulterregion,
Thorax).
>Abbildung: Blutdichte und Körperlage
Hinghofer-Szalkay H, Greenleaf J: Continuous monitoring of blood volume changes in humans. J Appl Physiol 1987; 63: 1003-7
Zeitlicher
Verlauf der Massendichte des Blutes (entspricht dem Hämatokrit) einer
Versuchsperson an zwei verschiedenen Versuchstagen (6,8) im
Sitzen (links), Stehen (MItte) und Liegen (rechts). Aufstehen führt
innerhalb von Minuten zu Hämokonzentration (
kapillärer
Flüssigkeitsverlust, daher Hämatokritanstieg), Hinlegen zu Hämodilution
(~10% Blutvolumenänderung).
Die Massendichte wurde kontinuierlich aus Venenblut mittels Messung der
Schwingungsfrequenz eines mit Blut durchströmten stimmgabelförmigen
Hohlkörpers aus Glas ermittelt ("
mechanical oscillator technique")
Das Filtrationsgleichgewicht über den gesamten Körper verändert sich
also mit der Körperlage. Wird die Versuchsperson nach dem Stehen in
liegende Position gekippt, dreht sich die Situation um: Nun wandert aus
den "unteren" Körperregionen mehr Flüssigkeit in die Kapillaren zurück
als in den "oberen" zusätzlich austritt - das Plasmavolumen steigt, der
Hämatokrit sinkt.
Die Veränderung im Plasmavolumen kann bis zu ~20%, im Blutvolumen ~10% betragen. Das ist von praktischer Relevanz:
Die Körperlage bestimmt auf diese Weise auch den Verdünnungsgrad (die
Konzentration) vieler im Blut gelöster Bestandteile, die sich nicht im
selben Tempo wie das Filtrat durch die Kapillarwände bewegen (z.B.
Hormone, Plasmaeiweiße).
Da die Eiweißkonzentration der Blutbestandteile hauptsächlich deren
Massendichte (spezifisches Gewicht) bestimmt, ändert sich mit der
Körperlage die Plasmadichte (bei ~70 g/l und Körpertemperatur: ~1020
g/l) und die Blutdichte (diese hängt vom Hämatokrit ab: Erythrozten
haben eine Eiweißkonzentration - MCHC - von ~340 g/l, was bei einem Hämatokrit von ~45% eine Blutdichte von ~1050 g/l ergibt - vgl. die Werte in der Abbildung).