Adaptation

(adaptare = sich anpassen)


Das Konzept der Forschungsrichtung "adaptive Medizin" geht davon aus, dass die Anpassung auf Belastungsreize zu günstigen Effekten im Sinne erhöhter Widerstandskraft (Resilienz) des Organismus führen. Dabei sind mehrere Dimensionen erkennbar:

   Eine wissenschaftliche, die an den Mechanismen interessiert ist (wie funktioniert das?);
  
    eine philosophische, die mit Werten in Beziehung setzt (wie ist das in Beziehung zu setzen?);
 
    eine teleologische, die sich mit der Bedeutung befasst (was ist der Zweck?);
 
    eine ethische, die moralische Rahmenbedingungen betrachtet (sind die Bedingungen akzeptabel?).

Unter bestimmten Bedingungen und in speziellen Teilaspekten gibt es Überschneidungen mit Homöostase, Akkommodation*), Akklimatisierung, Gewöhnung (Habituation), Sensibilisierung.

*) z.B. Veränderung der Brechkraft der Augenlinse; oder die adaptive Relaxation des proximalen Magens und anderer Darmabschnitte zur Erleichterung der Zwischenspeicherung von Magen-oder Darminhalt; oder die Abnahme der Membranpotentialantwort bei fortlaufender Reizstärke an Sinnes- oder Nervenzellen (abnehmende Permeabilität von Natriumkanälen).

Zwei generelle Linien der Begriffsbestimmung sind identifizierbar. Einerseits kann die Definition so lauten:

  Adaptation ist die Fähigkeit, umweltbedingte Störungen zu vermindern bzw. zu korrigieren. Dies trifft auf die weiter unten erläuterte 'physiologische Adaptation' zu; die Stabilität gegebener physiologischer Funktionen steht im Vordergrund. Andererseits wurde formuliert:

  Adaptation ist die Fähigkeit, eine verbesserte Nutzung von Umweltfaktoren zu ermöglichen - oder, noch stärker - in einer Umwelt zu (über)leben, die vorher mit dem (Über-) Leben unvereinbar war.

Beide Definitionen enthalten die Auseinandersetzung des Organismus mit der Umwelt und ihren - sich ändernden - Gegebenheiten.

Die Spielarten von Adaptation können sehr verschieden eingeteilt werden. Folgende Gruppierung erscheint nützlich:

Phänotypische Adaptation - sie bezieht sich auf funktionelle Reaktionen des Organismus ohne Änderung der genetischen Information. Hier kann man wiederum zwei Spielarten erkennen:
'Homöostatische' Adaptation - Regelsysteme halten Variable bzw. Parameter in einem bestimmten, als physiologisch anzusehenden Bereich. Dies ist das Prinzip der Halteregelung. Beispiele sind die Erhaltung der Körper(kern)temperatur, des Blutdrucks, der Osmolalität, der Körperthaltung, oder auch der genetischen Information.

'Modulative' Adaptation - Optimierungsstrategien führen zu (längerfristig reversiblen) Verschiebungen der Wertebereiche, zu Veränderungen physiologischer Funktionen (Folgeregelung). Beispiele sind Enzyminduktion, diverse Stressantworten, Veränderungen des Blutvolumens, Trainingseffekte an der Muskulatur, oder Lernvorgänge, z.B. im Nerven- oder Immunsystem.

Genotypische (modifikatorische) Adaptation - sie bezieht sich auf Änderungen im Erbgut, mit den Zielen einer über Generationen bleibenden Anpassung an die Umwelt und dadurch resultierende Selektionsvorteile. Dies ist ein nach wie vor kontroversielles Gebiet (Darwin, Lamarck, Gould, Lewontin, Mayr seien hier stellvertretend für Viele  erwähnt). Neue Forschungsergebnisse zur Epigenese scheinen lamarckistischen Ideen in gewissem Sinne neuen Auftrieb zu geben.

Interaktive Adaptation - sie bezieht sich auf das Zusammenwirken mehrerer Individuen innerhalb oder über die Grenzen von Populationen und Arten. Höhere Effizienz oder Symbiose stellen sich bei 'gleichsinniger', Räuber-Beute-Dynamik bei 'gegensinniger' Interaktion ein (Volterra & Lotka). Solche Muster lassen sich auch in menschlichen Sozialgefügen feststellen, ihre wissenschaftliche Erforschung befindet sich in einem frühen Stadium.

Globale Adaptation - sie bezieht sich auf das Zusammenwirken von Lebewesen im Maßstab von Biomen und der Erde als Ganzem (Gaia-Hypothese, J. Lovelock). Auch hier steht die Forschung noch am Anfang; geeignete Modelle, sowohl mathematisch (z.B. das Daisyworld-Modell) als auch physisch (z.B. Biosphere 2) stellen einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen dar.

Im Zeitlichen finden wir in dieser Bandbreite Prozesse, die vom Millisekunden- bis zum Millennienbereich reichen; im Größenmaßstab reicht der Rahmen von molekularen bis zu kosmischen Systemen. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass die Physiologie (=Lehre von Lebensfunktionen) ebenfalls in diesem großen Rahmen operiert, wobei viele Spezialfächer zusammenwirken müssen und die Untersuchung der Anpassungsfähigkeit des Lebens interdisziplinärer Forschung bedarf.

Der Begriff 'Adaptation' spielt eine besondere Rolle bei integrativen Ansätzen: Das System wird in Zusammenhang und Interaktion mit anderen gesehen, der Blick auf höhere (komplexere) Systemebenen fokussiert. 'Störgrößen' werden konzeptuell miteinbezogen.

In die andere Richtung, nämlich zur Beschränkung auf Elemente eines Systems und die Erfassung ihrer Funktion in einem isolierten Kontext, gehen reduktionistische Denk- und Forschungsmodelle. Hier trachtet man, komplizierende Einflüsse - u.a. physiologische - möglichst zu vermeiden, um die 'reine' Funktion besser zu durchschauen. In diese Richtung gehen Molekularbiologie und Zellphysiologie. Man verzichtet zugunsten des exakteren Verständnisses auf niedrigeren Organisationsebenen auf die Untersuchung von Interaktionen auf höheren Funktionsebenen.

Von der Methodik her werden die beiden Wege zunächst getrennt beschritten, denn es ist kaum möglich, im  Gesamtsystem gleichzeitig die Elemente reduktionistisch 'sauber' zu untersuchen. Ob eine anschließende Synthese der beiden Betrachtungsweisen zu Ergänzung, Synergie und neuer Erkenntnis führen, hängt vom wissenschaftlichen Anspruch der Forscher ab.

Bei der physiologischen Erforschung der Adaptation eines lebenden Systems ergeben sich mehrere Fragen, zum Beispiel:

An welchen Systemelementen orientieren wir uns? Im Sinne der 'homöostatischen' Adaptation wären es diejenigen, deren Funktionsbereich sich trotz Außeneinflüssen nicht verändert, während 'modulative' Adaptation an den Teilen wirkt, die mit einer Neueinstellung (relativen Optimierung) ihres physiologischen Arbeitsfeldes antworten. Beides wird in einer gegenenen Situation gleichzeitig zu beobachten sein.

Weiterhin kann das System zwischen mehreren Möglichkeiten auswählen. Es geht also nicht nur um Stereotypien, sondern auch um Strategien. Im Sinne der Modellierung kann hier an einen multidimensionalen Raum gedacht werden, mit einer Problemlösungs-'Landschaft', die mehrere Optima aufweist, und von denen nicht von vorneherein gesagt werden kann, welche in einer bestimmten Situation vorzuziehen wäre.

Drittens liegen keine einfachen kausalen Beziehungen vor, sondern sind die Systemelemente zu Netzwerken verknüpft, in denen die Ursachen-Wirkungs-Muster grundsätzlich komplex und nicht genau voraussagbar sind. Man kann diesen Sachverhalt im Sinne der Chaostheorie betrachten und die Muster, die sich im lebenden System durchsetzen, als Attraktoren auffassen. Diese Perspektive hat allerdings in der physiologischen Systemanalyse (noch) keinen Durchbruch gebracht.

Vom Zeitlichen her können wir kurzfristige, langfristige und ultra-langfristige Anpassungsmechanismen unterscheiden.

Als Beispiel für letzteren Fall kann ins Treffen geführt werden, dass wir über Äonen schrittweise die Fähigkeit verloren haben, essenzielle Aminosäuren oder Vitamine selbst zu bilden, aber dennoch überlebt haben, weil wir diese Stoffe aus der Umwelt konsumieren.

Als langfristig können Lernprozesse gelten, die z.B. nach einer Sensibilisierung zu einer Umstellung im spezifischen Immunsystem führen und eine lebenslange 'Feiung' gegenüber bestimmten Antigenträgern zur Folge haben können. Ein Beispiel für kurzfristige Adaptation ist die Verarbeitung von Stress: Bildung von Hitzeschock-Proteinen, Stresshormonen, Mobilisierung von Substraten für den Energiestoffwechsel usw.

Vom physiologischen Mechanismus her sind u.a. Fragen
 
  der Reizschwelle (ab wann reagiert das System?),
 

  der Kriterien für einen Referenzbereich (was kann noch als 'gesund' gewertet werden?),
 
  der Individualität (inwieweit ist für einen bestimmten Organismus als typisch, normal, akzeptabel aufzufassen, was für einen anderen als untypisch, abnorm, inakzeptabel gilt?),
 
  der Charakteristik der Reiz-Wirkungs-Beziehung (linear, nichtlinear, sigmoid?),
 
  der Selbstlimitierung bedeutsam.

In der Laborsituation kann eine einzige Umgebungsgröße isoliert und, ceteris paribus, verändert werden. Im realen Leben sind es in der Regel Kombinationen von Einzelfaktoren, die sich ändern und auf deren Muster sich der Organismus einstellen muss. Nicht nur die Antwortstrategie des Körpers auf Reize ist also komplex, es ist auch die Konstellation der Umweltbedingungen, auf deren Gesamtbild hin die Adaptation erfolgt.

Die Umwelt ändert sich ständig, und das erfordert allgemeine Strategien der Adaptation. Nach Isaac Asimov hat der Mensch gerade deswegen überlebt, weil er kein 'Spezialist' ist. Spezialisierung kann zum Nachteil werden, da die Art der zukünftigen Herausforderungen nicht vorhersehbar ist. In diesem Kontext ist das Prinzip der möglichst gleichbleibenden Erbinformation zu verstehen; zu rasche Änderung könnte den Verlust zusätzlicher genetischer Kapazität bedeuten, die zwar im Augenblick überflüssig sein mag, aber in einer geänderten Situation wieder zum Vorteil des Individuums mobilisierbar sein kann.

Wir leben in einem globalen Kontext, in einer Biosphäre, welche die Gesamtheit des irdischen Lebens umfasst. Energetisch wird die Biosphäre einerseits von Sonnenenergie angetrieben (Photosynthese), andererseits von Energie aus geologischen Vorgängen (Subduktion, Vulkanismus). Dieses Lebenserhaltungssystem versorgt uns mit atembarer Luft, trinkbarem Wasser, und essbarer organischer Substanz; und es hält das Weltklima in einem lebensfreundlichen Bereich. Die Anpassung der einzelnen Organismen stellt sich so als Einfügen in einen gemeinsamen Rahmen, eine globale Schicksalsgemeinschaft, dar.

Adaptation kann zu Spezialisierung führen, die in einem bestimmten Kontext vorteilhaft ist, aber die Gefahr in sich birgt, bei geänderten Bedingungsfaktoren nachteilig zu sein: 'Maladaptation'. Die adaptiven Muster sind also nicht an sich, sondern in Abhängigkeit von der Situation, beziehungsweise in einer bestimmten Umgebung sinnvoll. Ein Beispiel ist der Zustand, der sich bei erfolgreicher Anpassung an längere Bettlägrigkeit, den Zustand der Schwerelosigkeit o.ä. im Kreislauf ausbildet (Dekonditionierung): Herabgesetzte orthostatische Regulation, vermindertes Blutvolumen, Abnahme des maximalen Sauerstofftransports. Bei Rückführung an 'normale' Bedingungen (Einwirken der Schwerkraft auf die Längsachse des Körpers, stärkere Muskelbelastung) stellt sich die Adaptation nunmehr als Nachteil heraus - der Organismus passt sich jeweils an die aktuellen Bedingungen an, ohne prädiktive Fähigkeit.

Prädiktiv verhält sich der Organismus allerdings im Sinne von Lernvorgängen: Sich wiederholende Reizmuster können physiologische Mechanismen bedingen, die das Gegenteil der (erwarteten) physiologischen Reizantworten bewirken. So führt die wiederholte Gabe zentralnervös wirkender Pharmaka zu spiegelbildlichen Reaktionsmustern, die bereits vor Auswirkung des 'eigentlichen' Effekts nachweisbar werden (antizipatorische Antwort). Wird der primäre Stimulus nur vorgetäuscht (Konditionierung), kommt es zu einer - eventuell lebensbedrohlichen - Reaktion, die gewissermassen symmetrisch zum erwarteten Effekt verhält.

Adaptation kann in verschiedene Richtungen erfolgen: Die Rückentwicklung zum ursprünglichen Zustand wird auch als Deadaptation bezeichnet. Auch hier stellt sich die Frage, was als 'normal' anzusehen ist. Dies wird an einem Beispiel besonders klar, das von Muralt gegeben hat: Wenn die Physiologie der Geburt in den Anden geschrieben würde, in einer Umgebung, die wir als hypoxisch bezeichnen: Würde das Baby dann in eine 'normoxische' Umgebung geboren - in utero liegen reduzierte Sauerstoff-Partialdruckwerte vor -, während die Bedingungen auf Meereshöhe als 'hyperoxisch' anzusehen sind? Adaptation ist nicht absolut, sondern immer relativ zum jeweiligen Bedingungsfeld zu sehen.

Im Zusammenhang mit der Verarbeitung längerdauernder Einwirkung von Stressoren treten stereotype physiologische Anpassungsreaktionen auf (Hans Selye: Adaptationssyndrom).

Als adaptiv bezeichnet man denjenigen Teil der Immunantworten, welcher spezifisch auf mikrobiologische Herausforderungen reagiert.

© Helmut Hinghofer-Szalkay