Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
 

    
    
Grundlagen

Was ist Physiologie?

© H. Hinghofer-Szalkay


Adaptation: aptare = anpassen, zurechtmachen
Evolution: evolvere = enthüllen, abspinnen
Homöostase: ὁμοιοστάσις = Gleichstand
Mechanismus: μηχανή = Mittel (zu einem Zweck), Werkzeug
Physiologie: φύσις = Natur, λόγος = Lehre

Reduktionismus: re-ductio = Rückführung

System: σύστημα = das Gebilde, Verbundene
Teleologie: τέλος = Zweck, λόγος = Lehre



Physiologische Forschung untersucht Lebensvorgänge und konzentriert sich dabei auf optimale Funktionsweisen. So stellt sie Fragen zur Homöostase (Stabilisierung von Zustandsvariablen); zur Belastbarkeit (Resilienz); oder zur Adaptation (Anpassung an veränderte Umgebungsbedingungen).

Subdisziplinen der Physiologie orientieren sich an Funktionen von Zellen, Geweben, Organen und Organismen - Transportvorgänge, Säure-Basen-Haushalt, Wärmeregulation, Orientierung etc. Eine klassische Untergliederung ist die in vegetative (Atmung, Kreislauf, Verdauung..) und animalische Physiologie (Sinnesleistungen, Nervenssytem, Bewegung..).

Ein zentraler Begriff der Physiologie ist der des Systems: Ein organisiertes Ganzes, das Funktionen erfüllt, welches die separierten Bestandteile für sich alleine nicht erfüllen können. Physiologische Systeme haben einen Stoffwechsel, sind reproduktions- und anpassungsfähig und verfügen über Attribute, die dem Phänomen Leben insgesamt zukommen.

Physiologische Forschung bedient sich wissenschaftlicher Methoden und überprüft laufend die Gültigkeit geltender Vorstellungen (Möglichkeit der Falsifikation), die bei Vorliegen neuer Erkenntnisse gegebenenfalls durch besser fundierte Vorstellungen erweitert oder ersetzt werden.


Übersicht Leben und System Top-down vs. bottom-up Homöostase, Regelung, Adaptation

Core messages
   
Physiologie ist nicht nur ein "vorklinisches" Fachgebiet - sie ist auch ein faszinierender Schlüssel zum Verständnis von Lebensvorgängen. Sie gibt Antworten auf die Neugierde, die bei der Beschäftigung mit jedem Lebewesen - und damit auch uns selbst - spontan aufkeimt: Wie funktioniert das eigentlich - das Denken, Fühlen, Handeln; der Transport von Stoffen durch den Organismus; die Phänomene, die uns gesund erhalten können, obwohl wir ständig Krankheitserregern ausgesetzt sind - und so weiter.
 
Physiologische Forschung bedient sich naturwissenschaftlicher Methoden, das heißt, sie geht offen und undogmatisch vor und hält sich an das Rationale, Hinterfragbare, Falsifizierbare, an Evidenz auf der Basis bisher erarbeiteter Erkenntnis. Das ist mühsame Arbeit, aber es ist der beste Weg, das Verständnis der Natur schrittweise zu vertiefen und scheinbar einleuchtenden, aber irreführenden Vorstellungen möglichst aus dem Weg zu gehen.
 
Diese Website versucht, Grundlagen der Physiologie des Menschen in verständlicher Form zu erzählen.


Worum geht es in der Physiologie?

Physiologie erforscht und beschreibt die Dynamik von Lebensvorgängen. Humanphysiologie fokussiert die Betrachtung auf den Menschen und hat starken Bezug auf Medizin und Klinik (medizinische Physiologie). Anwendung finden Erkenntnisse der physiologischen Wissenschaften auf mehreren Ebenen, von Molekülen (molekulare Physiologie) und Zellen (Zellphysiologie) über Organsysteme (Reproduktion, Kreislauf, Atmung, Verdauung, Nervensystem, Sinnesorgane, Immunsystem etc) bis zum ganzen Organismus (z.B. Arbeit und Sport) und der Interaktion mit seiner Umwelt (Ökophysiologie).

Im Mittelpunkt der physiologischen Forschung stehen Mechanismen, die erklären, wie die Komponenten des Lebens interagieren ("Wie funktioniert das?"). Diese werden mit wissenschaftlichen Methoden ergründet (Beobachtung, Experiment, Biometrie, Dateninterpretation) - reproduzierbar und nachvollziehbar. Unerwartete Ergebnisse erregen dabei besondere Aufmerksamkeit: Beruhen sie auf einem Fehler in der methodischen Nachweiskette, oder zeigen sie tatsächlich neue Erkenntnis auf?

Aus physiologischen Gegebenheiten ergeben sich unter anderem auch Orientierungshilfen für einen gesunden Lebensstil: Was ist geeignet, Körper und Geist fit zu halten (Resilienz), Erkrankungen vorzubeugen (Prävention) und Heilprozesse zu unterstützen (therapeutisches Potenzial)? Die Berücksichtigung solcher Erkenntnisse hilft dabei, Umstände zu fördern, die dem Körper helfen, seine Kapazität zur Gesunderhaltung und Selbstheilung zu nützen.

Klinischen Beobachtungen und Messungen liegen physiologische Zusammenhänge zugrunde. Was ist "normal", was "gesund", was tolerierbar? Welche Fehler können auf dem Weg vom Organismus über das Erfassunssystem bis zu resultierenden Daten auftreten, welche alters- und geschlechtsbedingten Unterschiede sind zu erwarten, wie wirken sich situationsbedingte (Körperlage, Belastung, Stress, Zyklusphase, Medikation...) und Umweltfaktoren (Beleuchtungsstärke, Lärm, Temperatur, Luftdruck ...) auf Zustandsvariable und Messergebnisse aus?

Zu den Grundlagen der Physiologie zählen Molekularbiologie, Biochemie, Biophysik. Biophysik untersucht die Rolle physikalisch beschreibbarer Mechanismen und Vorgänge in Zellen, Geweben und Organismen. Zu ihren Subdisziplinen zählen Biomechanik und Elektrophysiologie. Generelle Prinzipien und Methoden betreffen z.B. Masse, Bewegung (Newton'sche Gesetze), Optik, Akustik, elektromagnetische Felder, Strahlung etc.
 

Abbildung: Experimentelle Zugangsweisen physiologischer Forschung

Teilsysteme - wie Moleküle, Zellen oder Organe - können unter artefiziellen Bedingungen in vitro untersucht werden (vitreum = Glas). Untersuchungen am Gesamtsystem erfolgen am lebenden Objekt - in vivo -, Computersimulationen in silico (silicium: Halbleiter)


Zahlreiche physikalische Größen spielen eine wichtige physiologische Rolle, wie Masse (z.B. Körpergewicht), Volumen, Strömung, Druck (Blut im Kreislauf, Luft in der Lunge, Berührung der Haut..), Beschleunigung (Aortenwurzel, Gleichgewichtssinn), Gassättigung (Sauerstoff am Hämoglobin..), TemperaturWärmemenge (Thermoregulation, Energiehaushalt), Schallstärke, (Gehör), Lichtintensität (Gesichtssinn). Ändern sich solche Zustandsgrößen, reagiert der Organismus darauf mit entsprechender Anpassung.
 
Grenzen der Anpassung: Physiologie behandelt unter anderem Fragen der Anpassung und des Überlebens:
 
     Was passiert in extremen Situationen?
 
     Wie funktioniert der Körper unter Bedingungen extremer Drucke, Temperaturen, Beschleunigungswerte, bei eingeschränkter Zufuhr von Wasser, Nahrung, Atemgasen?
 
     Wie sind "physische" und "psychische" Faktoren und Belastbarkeit verknüpft?
 
     Wie reagiert der Körper auf Stress, wo liegen die Leistungsgrenzen, wie und wie rasch passt sich der Mensch an veränderte Bedingungen an?

Kurz, worauf beruht Widerstandsfähigkeit? Was kann man daraus bezüglich Lebensqualität und Lebenserwartung erfahren?



Die Bezeichnung "Physiologie" (φύσις = Natur, λόγος = Lehre) deutet auf einen ursprünglich viel weiteren Bereich hin als heute. Die Physiologoi, vor allem Thales von Milet, Heraklit und Demokrit von Abdera, widmeten sich im 5. Jh. v. Chr. dem Studium aller Aspekte der Natur, einschließlich der Medizin. Ihr Denkansatz war im Grunde ein rationaler, kausaler und insoferne wissenschaftlicher. Physiologische Gedanken begannen - soweit heute nachvollziehbar - mit Philosophen des griechischen Kulturkreises (Hippokrates, Aristoteles, Galen).

Eine tiefgreifende Erneuerung erfuhr die Physiologie erst zwei Jahrtausende später - in der Renaissance. Jean Fernel hat den Begriff "Physiologie" im 16. Jahrhundert im modernen Sinne geprägt (Aufklärung!), um die Untersuchung von Körperfunktionen begrifflich zu kennzeichnen. An die Stelle des Dogmas trat das Experiment, d.h. die Befragung der Natur. Dieses Weltbild revolutionierte die physiologische Wissenschaft. So wurden die Grundlagen für moderne physiologische Forschung und Betrachtung im 16. und 17. Jahrhundert gelegt (Ibn an-Nafis, Servetus, Colombo, Cesalpino, Harvey (de motu cordis). Mit dem Zeitalter der Aufklärung betritt die physiologische Forschung dann endgültig die Moderne - trotz noch zahlreicher heute als unwissenschaftlich anmutender Elemente (Boerhaave, Hoffmann, Stahl).

Aus der sehr umfassenden Beschäftigung mit der Frage, wie Leben überhaupt fuktioniert, haben sich zahlreiche Fachdisziplinen aus dem "Mutterfach" Physiologie entwickelt, vor allem im 19. (Bichat, Magendie, Purkinje, Wagner, Weber) und verstärkt im 20. Jahrhundert: Histologie, Embryologie, Genetik, medizinische Biologie, Biophysik, Pathophysiologie, Biochemie, Immunologie u.a. Diesen "Knospungen" lagen jeweils methodische und theoretische Spezialisierungen und Fokussierungen und die sich daras entwickelnden Erkenntniszuwächse zugrunde. Große Durchbrüche konnten u.a. mit den Methoden der Molekularbiologie erzielt werden.

Die Sichtweise der Physiologie war und ist systemisch, d.h. Zusammenhänge auch über unterschiedliche Komplexitätsebenen hinweg betrachtend. Heute spielt die Physiologie auch eine interdisziplinäre Mittlerrolle; sie kann aufgrund ihrer Tradition und breiten (synpotischen) Sichtweise als Brücke zwischen verschiedenen Fachrichtungen dienen.

Leben und System
 

Humanphysiologie untersucht das Funktionieren des menschlichen Organismus; medizinische Physiologie gibt wichtige Hinweise für Problemvermeidung, Beratung, Diagnostik, Therapie.

Physiologie im Allgemeinen beschäftigt sich mit lebenden Systemen:

  Leben zeichnet sich durch Kombinationen von Eigenschaften aus wie Energie- und Stoffwechsel, Selbstkonstruktion / Selbstorganisation, Reduplikation, Anpassungsfähigkeit, Resilienz, Kompetition, Selektion.

Dabei gibt es fließende Übergänge zur "unbelebten" Natur: Viren sind Produkte von Lebensvorgängen, auf sich alleine gestellt sind sie aber nicht lebensfähig; überall finden sich Spuren des Lebens (z.B. Kalkstein, Kohleflöze, Sauerstoff in der Atmosphäre, die Technosphäre), die zwar nicht selbst "leben", aber ohne Leben nicht vorhanden wären.

Andererseits "belebt" jede Zelle anorganische Bausteine, indem sie sie in ihr System integriert.
  Systeme sind aus interagierenden Elementen aufgebaut (Aristoteles: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile). Steigende Komplexität kombinierter Systeme bringt Eigenschaften, welche über die ihrer separaten Elemente hinausgehen. Solche Eigenschaften bezeichnet man als emergent (sie "tauchen auf").

Beispiel: Die Eigenschaften einzelner Herzmuskelzellen alleine können die Eigenschaften eines EKG nicht voraussagen - dazu ist zusätzliche Information über Morphologie und funktionelle Charakteristika des Herzens und seiner Umgebung nötig.
 

Abbildung: Hierarchie-Ebenen lebender Systeme
Nach: Mommaerts et al. A view of systems physiology. Physiologist 1968; 11: 115-33


Physiologie beschäftigt sich mit Fragen, die von biochemischen Systemen bis zur Funktionsweise gesamter Organismen (und deren Interaktionen) reichen

Im Allgemeinen gilt: Je umfassender die physiologische Funktion, desto komplexer das (betreffende regulierende / stabilisierende) System. Mit zunehmender Komplexität des Systems pflegen auch medizinische Interventionen schwieriger zu werden.

Zwei Beispiele:
 
-- Blutungsneigung kann ebenso fatale Folgen haben wie ungenügende Blutstillung.
Die Blutgerinnung ist vielgliedrig aufgebaut, das System durch zahlreiche Rückkopplungsschleifen stabilisiert.
 
-- Es ist einfacher, den Blutzuckerspiegel vorübergehend zu senken (Insulingabe) als Übergewicht nachhaltig zu bekämpfen. Systemhierarchie: Physiologie reicht von der molekularen Ebene über mehrere Komplexitätsniveaus bis zur Ebene der Evolutionsbiologie und Ökologie ( Abbildung). Mit zunehmender Komplexität sind es immer zahlreichere Bausteine aus der jeweils niedrigeren Ebene, die in ein höheres Gesamtsystem einfließen.
 

Körper

physiologisches System

Organ / Gewebe

Zelle

Organelle

Strukturelement

Biomolekül

 
Vom ganz Kleinen (Atomphysik) bis zum ganz Großen (Kosmologie) zieht sich ein roter Faden, und für die Arbeit in einer gegebenen Größenordnung ist der Blick in "benachbarte" Dimensionen sehr oft inspirierend. Allgemein ist der interdisziplinäre Denkansatz hilfreich (wenn auch mühsam), wenn es um ein tieferes Verständnis der inneren Zusammenhänge geht.
 

Abbildung: Nukleosynthese (Bildung von Atomkernen)
Nach einer Vorlage bei Wikimedia.org / Cmglee

Kosmische Vorgänge lassen Elemente entstehen: Wasserstoff und Helium waren im Universum primär vorhanden, bei Einwirken hoher Energiemengen entstehen aus ihnen weitere Elemente, die in die Umgebung verteilt werden (Supernova-Explosionen)

Wasserstoff und Helium sind nach dem Urknall als primäre Elemente zuerst im Universum aufgetaucht und waren Ausgangssubstanz für weitere Elemente. So entsteht Sauerstoff in "kleinen" bis "großen" Sternen ( Abbildung), in weiterer Folge beispielsweise Alkali- und Erdalkali-Elemente (Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium) sowie z.B. Chlorid (Salze!).

Ohne diese Elemente kann Leben, wie wir es kennen, nicht stattfinden.


Große Sterne mit ≥1010 kg/m3 Dichte (Sonne ~1,4.103 kg/m3), bei Temperaturen von über einer Milliarde Grad (1.5×109 K), sind "Elementbrüter". Diese Materie kann dann in das angrenzende Universum verteilt werden (Supernova-Explosionen).

"Sternenstaub" kondensiert zu Himmelskörpern, und verschiedene planetare Vorgänge lassen auch organische Moleküle entstehen, ebenfalls Grundlage für lebende Systeme. Man geht davon aus, dass die Grundbausteine für Leben überall im Universum zu finden sind.   
 
Die Zahl der Elemente, die im irdischen Leben (und im Körper des Menschen) eine unverzichtbare Rolle spielen, ist im Vergleich zur Zahl der im Universum vorkommenden eher gering. Fast die gesamte Masse (99%) entfällt auf Wasserstoff, Sauerstoff (Wasser!), Kohlenstoff und Stickstoff, der Rest auf Alkali- und Erdalkalimetalle (Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium), Phosphor, Schwefel, Chlorid sowie ein Dutzend Spurenelemente ( Abbildung).

Der Körper eines Menschen enthält ungefähr 1028 Atome (zehn Quadrilliarden - eine 1 mit 28 Nullen - eine Zahl, die
sich unserer Vorstellungskraft entzieht: das Millionenfache der Anzahl der Sterne, die im gesamten Universum sichtbar sind). Dennoch zweifelt kaum jemand daran, dass unser Körper letztlich aus Atomen besteht und dass ihre Interaktion den Naturgesetzen folgt (Biochemie!).
 
 
Abbildung: Periodensystem und lebenswichtige Elemente
Nach einer Vorlage bei Alberts et al, Molecular Biology of the Cell, Garland 2008

Hervorgehoben sind die Elemente, die für Funktionen des menschlichen Körpers nachweislich benötigt werden


Rahmenbedingungen: Physiologie sieht lebende Systeme im Kontext ihrer Umgebung, der "Matrix", in der sie sich entwickeln und bewähren (woher kommen Energie, Nahrung, Sauerstoff etc, wohin gehen Kohlendioxid, Ausscheidungen, diverse Produkte menschlicher Aktivität?).

Zeitlich können solche Vorgänge von Sekundenbruchteilen (z.B. Wiederaufnahme eines synaptisch freigesetzten Transmitterstoffes) bis zu geologischen Dimensionen (z.B. Kohlenstoff: Photosynthese → Verkohlung → Verbrennung → Photosynthese) reichen (Recycling). Wie schwierig eine vollständige Balance der für das Leben notwendigen Materieflüsse künstlich herzustellen ist, zeigt das Beispiel materiell geschlossener biologischer Lebenserhaltungssysteme (Raumfahrt).
 
Reduktionistisch vs. integrativ
 
Ein besonderes Kennzeichen der systemischen Physiologie ist, dass sie Zusammenhänge (Mensch mit seinen Umgebungsfaktoren) betrachtet (integrative Sicht).

Leben ist aus seiner natürlichen Umwelt herausgelöst (stofflich, energetisch, zeitlich, räumlich, organisatorisch) nicht ausreichend zu verstehen. Der integrative Ansatz (Top-down-approach, holistischer Ansatz) bemüht sich um eine Sicht "vom Großen Ganzen" aus, unter möglichst vollständiger Berücksichtigung relevanter Bedingungen und Begleitfaktoren des Lebens (integrative Physiologie). Beispielsweise kann man den Menschen als Teil der belebten Natur beschreiben und die lebensnotwendigen Umweltfaktoren (Nahrung, Wasser, Luft..) sowie deren Stabilisierung (Biosphäre, ..) berücksichtigen.

Angesichts der Komplexität solcher Betrachtungsweisen ist es allerdings schwierig, bei integrativen Ansätzen wissenschaftlich wünschenswerte Präzision der Fragestellungen zu bewahren; die Falsifizierbarkeit (oder: Möglichkeit der "Entplausibilisierung") aufgestellter Hypothesen kann außer Reichweite gelangen.
 
 
Abbildung: Gefahr des Bottom-up-Ansatzes
Nach Hans Møller (mollers.dk)

Keiner erkennt den Elefanten: Blinde Fokussierung auf das Detail kann den Blick auf das Ganze verstellen


Umgekehrt kann man das Leben von seinen Elementen herzuleiten versuchen (Bottom-up-approach, Reduktionismus:) Die isolierte Untersuchung und Beschreibung von den "Bausteinen" des Lebens her - wie interagieren Atome, Moleküle, Molekülkomplexe, Zellorganellen, Zellen..? - erlaubt es, Subsysteme als solche besser - ohne "störende" Einflüsse durch zusätzliche Faktoren - zu verstehen.

Diese Vorgangswseise der "Laboreinschränkung" nennt man reduktionistisch: Sie setzt bestimmte Faktoren voraus (dass z.B. Sauerstoff im Labor vorhanden ist, seine Entstehung in der Biosphäre ist in die Fragestellung nicht inkludiert), ohne ihr Vorhandensein erklären zu müssen.

Reduktionistische Beschreibungen (klassischer Darstellungsstil in Lehrbüchern) sind didaktisch nützlich, aber man sollte sich der Tatsache bewusst bleiben, dass sie eine fokussierte Sicht der Dinge bieten. Man kann dabei wesentliche Zusammenhänge übersehen ( Abbildung).


Der Lehrstoff der Physiologie enthält sehr unterschiedliche Aspekte, wobei die Funktion im Vordergrund steht, zum Beispiel:

     Funktionsweise von Zellen, Geweben, Organen
 
     Ernährung, Energie- und Substrathaushalt, Temperaturregulation, Wasser-und Elektrolythaushalt, Säure-Basen-Status, Calcium- und Mineralhaushalt, Knochensystem
 
     Wirkungsweise von Hormonen, Sexualität, Reproduktion, Entwicklung und Wachstum
 
     Funktion der Sinnesorgane, Körperhaltung und Motorik, Muskulatur, Funktionen des Nervensystems
 
     Abwehrvorgänge und Immunsystem
 

Abbildung: Einige physiologische Systeme
Modifiziert nach einer Vorlage in wiseGEEK.com

Als Systeme werden z.B. Zellorganellen, Zellen, Organe, funktionelle Gewebeverbände, Organismen, Biome gesehen. Komplexe Systeme sind aus einfachen (Subsystemen) zusammengesetzt, dabei nehmen sie Eigenschaften an, die aus dem Verhalten der einfachen nicht voraussagbar sind (emergente Eigenschaften)


Man kann physiologische Systeme unterschiedlich definieren, wie zum Beispiel:
 
      Respiratorisches
System (Atmung) - Lunge und Luftwege
      Kardiovaskuläres System - Herz und Kreislauf (Transport von Atemgasen, Nährstoffen, Flüssigkeit, Wärme etc)
 
     Nervensystem (Nerven- und Gliazellen) - zentral (Gehirn und Rückenmark), peripher (afferent / efferent; somatisch, autonom, enterisch), Sinnesorgane
      Motorisches System (Muskeln: Skelett-, Herz, glatt)
      Skelettsystem (Knochen, Knorpel, Bänder, Sehnen)
      Haut und Anhangsgebilde
      Digestives System (Speicheldrüsen, Pharynx, Ösophagus, Gastrointestinaltrakt, Leber, Gallensystem, Pankreas)
      Harnapparat (Nieren, Ureter, Harnblase, Urethra)
      Reproduktives System (Fortpflanzung)
      Endokrine Systeme (hormonbildende Drüsen)
      Immunsystem (Abwehr, Reparatur, Heilung)

Was die Physiologie zu einem konsistenten Fach macht, kann man an Hand gemeinsamer Aspekte identifizieren:

  Evolution - Geschichte des Lebens und der zugrundeliegenden Mechanismen
  Ökosysteme - Leben existiert in Ökosystemen, bestehend aus abiotischer Umgebung und Partnerorganismen
  Kausale Mechanismen - Wissenschaftliche Deutungen als Ursache und Wirkung
  Zelle - Zellen sind die Bausteine des Lebens, wir kennen kein Leben ohne sie
  Struktur und Funktion - Leben als Wechselwirkung von Struktur und Funktion auf verschiedenen Ebenen
  Organisationsniveau - Lebewesen funktionieren auf mehreren Organisationsniveaus gleichzeitig
  Informationsflüsse - Steter Informationsfluss innerhalb und zwischen Zellen, Organismen und ihrer Umgebung
  Metabolismus - Lebewesen beziehen Materie und Energie aus ihrer Umgebung und setzen sie nach ihren Bedürfnissen um
  Homöostase - Physiologische Regelungsprozesse ermöglichen und stabilisieren optimale Bedingungen für Lebensvorgänge
  
Lebende Systeme sind stabil und anpassungsfähig

    Homöostase ist die Kontrolle lebenswichtiger Zustandsvariablen, wie z.B. Blutdruck oder Sauerstoffaufnahme. Die Zahl solcher Zustandsvariablen (meistens als "Parameter" bezeichnet) ist groß, und der Organismus verwendet einen erheblichen Aufwand für ihre Stabilisierung. Homöostase ist ein dynamisches Phänomen: Geringe Abweichungen von einem jeweiligen Optimum treten ständig auf und veranlassen (im Sinne eines "Systemchecks") die laufende Feinjustrierung durch Regelsysteme, die dadurch die jeweiligen Zielgrößen in ihrem optimalen Bereich halten. Zweck der Homöostase ist die Stabilisierung des "inneren Milieus" (milieu intérieur - Claude Bernard, internal environment) im Organismus. Zu den involvierten Faktoren gehören z.B. Wasser, Elektrolyte, Nährstoffe, Atemgase, pH-Wert(e), Temperatur.

Man kann Physiologie definieren als die Suche nach
optimalen Funktionsweisen in lebenden Systemen. "Optimums-Punkte" können dabei im Sinne der Chaostheorie als Attraktoren - Orte der Stabilität - gesehen werden, welche funktionierende, gesunde, überlebensfähige Systeme auszeichnen. Mechanismen, die das bewerkstelligen, funktionieren homöostatisch:

 

Abbildung: Homöostase durch negative Rückkopplung
Nach einer Vorlage bei Person Education / Benjamin Cummings 2004

Physiologische Systeme sind in der Lage, die Größe kritischer Zustandsvariabler so zu stabilisieren, dass die Funktion des Ganzen nicht beeinträchtigt wird


Homöostase hat die Stabilisierung biologischer Funktionsmuster zum Ziel ( Abbildung). Lebenszustände werden durch Regelungs-, Rückkopplungs- (feedback) und Steuerungsmechanismen stabilisiert (Beispiel: Blutdruckregulation).

Äußere Rahmenbedingungen können sich ändern - und mit ihnen das Funktionsoptimum eines Systems. Allostase betrifft die Fähigkeit, Stabilität durch Veränderung - also adaptiv - zu erreichen.

"Homöostatisches" (homoios = gleich) und "allostatisches" (allos = anders) Verhalten eines Systems sind je nach Bedingungen und Erfordernissen gefragt. Parameter, Zustandsgrößen und/oder Organisationsstrukturen müssen sich an wechselnde Bedingungen anpassen; ohne Berücksichtigung veränderter Umweltbedingungen wäre Stabilität schwer zu erhalten.

Homöostatische Regelkreise arbeiten in Netzwerken im Organismus zusammen.
 
     Dabei können sie einander ergänzen (Synergismus), oder in Konkurrenz zueinander stehen (Antagonismus). Beispielsweise senkt Insulin den Blutzuckerspiegel, "antiinsulinäre" Hormone (Glukagon, Adrenalin, Cortisol) erhöhen ihn.
 
     In vielen Fällen kümmern sich mehr als nur ein System um die Stabilisierung einer Zustandsgröße (Blutzuckerspiegel, Blutdruck,..), insbesondere wenn die Regulation von kritischer Bedeutung ist (Redundanz). Fällt einer der beteiligten Regelkreise aus, kann die Regelgröße durch die Aktivität anderer Regelkreise stabilisiert bleiben.
 
     Regelkreise können in hierarchischer Ordnung zueinander stehen, etwa steuern hypothalamische Hormone hypophysäre, und hypophysäre steuern glanduläre Hormone (Beispiel CRH → ACTH → Cortisol).
 
     Schließlich existieren Prioritäten, z.B. wenn bei körperlicher Belastung die Stabilität des Blutvolumens vor derjeniger der Körpertemperatur rangiert (Schwitzen kühlt den Körper, verringert aber das extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen).
 
Stresseinwirkungen, die Anpassung erfordern, sind z.B. orthostatische Belastung, körperliche Arbeit, mikrobielle Herausforderung, extreme physikalische Umweltbedingungen (veränderte Druck- oder Temperaturbereiche), variierende Nahrungszufuhr etc.

 
Für die Medizin ist der physiologische Rahmen die Referenz für die Beurteilung eines unphysiologischen Zustandes. Dabei reicht es nicht immer, am unbelasteten Körper etwas zu messen; vielmehr ist es oft notwendig, den Organismus einer Herausforderung zu unterziehen und seine Reaktion darauf zu erfassen (funktionelle Untersuchung). So kann etwa der Nüchtern-Blutzuckerspiegel im Normbereich liegen, bei einer Zuckerbelastung (Glucose-Toleranztest) zeigt sich erst eine diabetische Regulationsschwäche.

Zu einer richtigen Einordnung ist es notwendig, die Bandbreite der Verteilung von Messgrößen (Referenzbereich) und deren Abhängigkeit von gegebenen Größen (Alter, Geschlecht..) und Situationen (Körperlage, Muskelaktivität, Stress..) zu kennen. Krankheit kann - im Sinne dieser Betrachtungsweise - als ein Zustand suboptimaler Funktion und mangelnden Anpassungsvermögens aufgefasst werden.

Ursachen
können primäre (z.B. Herzinfarkt
→ Kreislaufversagen) oder sekundäre pathologische Effekte hervorrufen (z.B. Kreislaufversagen → Ödembildung) und finden sich
 
      im Organismus selbst (Genschäden, endogene Depression, Alterungsvorgänge, Infekte...) oder
 
      in seiner Umwelt (z.B. Fehlernährung, die den Organismus schwächt und für Störungen empfänglich macht; Veränderung der physikalisch-chemischen Umweltkomponenten, wie Sauerstoff- oder Substratmangel; Einwirkungen, die zu Verletzungen führen; Strahlung; etc), oder (sehr oft)
 
      im Zusammenwirken von Faktoren, die im Organismus einerseits, in seiner Umwelt andererseits zu finden sind.
 
Meaning of life? Die Sinnfrage verlässt den Boden der Naturwissenschaften - sie orientiert sich an der Bedeutung bzw. dem Zweck des Lebens an sich, sie ist teleologisch   ausgerichtet. Ist die Sinnfrage in diesem Rahmen überhaupt sinnvoll?

Geht man davon aus, dass sich das Phänomen Leben Schritt für Schritt bewähren muss und zahlreiche Versuche in Fehlentwicklungen münden (die - im evolutionären Sinne - meist aus der Reproduktionskette verschwinden), mag es akzeptabler erscheinen, den Mechanismus der Lebensvorgänge als offenes Spiel und nicht in einem deterministischen Licht zu sehen.

Eine zielgerichtete Entwicklung des Lebens ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht erkennbar, wohl aber ein ständiger Anpassungsmechanismus, gepaart mit besseren Überlebenschancen von Lebewesen, die mit den jeweils herrschenden Bedingungen ihrer Umwelt am ehesten harmonieren ("survival of the fittest"). Dabei ist unter "Fitness" nicht nur Stärke und Durchsetzungsvermögen, sondern ganz allgemein der Grad der erfolgreichen Anpassung an wechselnde Erfordernisse zu verstehen.

Physiologische Adaptation kann in ganz unterschiedlichen Zeiträumen erfolgen, z.B. werden motorische Programme reflektorisch innerhalb von Sekundenbruchteilen adjustiert; hormonelle Reaktionen auf wechselnde Situationsprofile können innerhalb von Minuten erfolgen; die Regelung des Blutdrucks wird über Sekunden, Minuten, Stunden, Tage oder Monate an die jeweiligen Bedingungen angepasst; Organismen können auf Veränderungen von Umgebungsfaktoren über noch längere Zeiträume (z.T. epigenetisch) reagieren.
 
     Über Genetik und Epigenetik s. dort

 

 
      Physiologie beschäftigt sich mit der Funktionsweise lebendiger Systeme, medizinische Physiologie in einem klinischen Kontext. Physiologische Forschung untersucht Mechanismen, die erklären, wie biologische Systeme funktionieren - mit wissenschaftlichen Methoden. Physiologie vertieft die Interpretation medizinischer Beobachtungen und Daten und fließt in Prävention, Diagnostik, Therapie, biomedizinische Technik ein
 
      Mit zunehmender Komplexität lebender Systeme erlangen diese emergente Eigenschaften, welche über Merkmale und Verhalten ihrer (isolierten) Komponenten (die im System interagieren) hinausgehen und aus der Analyse der Einzelkomponenten nicht voraussagbar sind. Die Systemhierarchie reicht von Molekülen bis zu Organismen und deren Interaktion mit der Umwelt
 
      Physiologie wird integrativ (top-down) und reduktionistisch (bottom-up) betrieben. Der integrative Ansatz bemüht sich um Berücksichtigung relevanter Bedingungen und Begleitfaktoren des Lebens mit dem Ziel einer möglichst vollständigen Beschreibung; der reduktionistische beschränkt sich auf die Analyse von Subsystemen unter möglichst präzise definierten Bedingungen. Aspekte physiologischer Untersuchung sind z.B. Evolution, Wechselwirkung zwischen Struktur und Funktion, Organisationsniveaus, Informationsflüsse, Metabolismus, Homöostase, Anpassung
 
      Homöostase ist die Kontrolle von Zustandsvariablen ("Parametern") wie Blutdruck oder Glucosespiegel. Physiologie untersucht Mechanismen, welche Zustandsvariable stabilisieren / beeinflussen / anpassen, wobei Gebiete optimaler Arbeitsweise als Attraktoren (Chaostheorie) gesehen werden können. Homöostase hütet Funktionsmuster durch Regelungs-, Rückkopplungs- und Steuerungsmechanismen (Beispiel Blutdruckregulation). Allostase betrifft die Fähigkeit, angesichts veränderter Rahmenbedingungen (Stresseinwirkungen) Stabilität adaptiv (durch bestgeeignete Veränderung von Zustandsgrößen) zu erreichen. Beispiele sind veränderte Druck- oder Temperaturbereiche, variierende Nahrungszufuhr, orthostatische Belastung, körperliche Arbeit, mikrobielle Herausforderung


 



  Die Informationen in dieser Website basieren auf verschiedenen Quellen: Lehrbüchern, Reviews, Originalarbeiten u.a. Sie sollen zur Auseinandersetzung mit physiologischen Fragen, Problemen und Erkenntnissen anregen. Soferne Referenzbereiche angegeben sind, dienen diese zur Orientierung; die Grenzen sind aus biologischen, messmethodischen und statistischen Gründen nicht absolut. Wissenschaft fragt, vermutet und interpretiert; sie ist offen, dynamisch und evolutiv. Sie strebt nach Erkenntnis, erhebt aber nicht den Anspruch, im Besitz der "Wahrheit" zu sein.