Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
 

    
Grundlagen und Methoden der Physiologie; molekulare und zelluläre Aspekte
 
Homöostase, Steuerung, Rückkopplung, Adaptation

© H. Hinghofer-Szalkay
Adaptation: ad-aptare = anpassen
Allostase: ἄλλως = anders, στάσις = Stand
Barorezeptor: βαρύς = schwer, recipere = behalten, erlangen, aufnehmen
Homöostase: ὁμοιοστάσις = Gleichstand
Kybernetik: κυβερνήτης = Steuermann
postprandial: post = nach, prandium = zweites Frühstück
Resilienz: resilire = abprallen
zirkadian: circa = um herum, ungefähr, dies = Tag



Homöostase bedeutet die Stabilisierung von Zustandsvariablen im Organismus, sie hält bestimmte Größen in einem definierten Bereich. Durch Regelung werden Abweichungen bestimmter "Istwerte" (z.B. des Blutdrucks) von erwünschten "Sollwerten" (z.B. im Gehirn) durch "Fühler" (Rezeptoren) erfasst, "Stellglieder" (Effektoren - z.B. Herz, Blutgefäße) korrigieren darauf die "Regelgröße" (z.B. den Blutdruck). Adaptation ist Anpassung an variable Situationen und ermöglicht optimale Funktionsweise auch unter veränderten Rahmenbedingungen.

Rückkopplung (feedback) ergibt sich, wenn ein System auf Veränderung bestimmter Zustandsgrößen mit Steuerung reagiert. Die Zustandsgröße (z.B. Blutdruck) wird von Rezeptoren erfasst, in eine Erregungsgröße (Aktionspotentiale) übersetzt, einem Regler (Kreislaufzentrum) gemeldet, und dieser beeinflusst die Zustandsgröße entsprechend (es vergleicht Istwert und Sollwert und reagiert dementsprechend).

Negatives Feedback dient der Systemstabilisierung. Es minimiert bzw. korrigiert Abweichungen von einem "gewünschten" Wert. Die meisten physiologischen Rückkopplungsschleifen haben diesen Zweck - nämlich, das System in einem Zustandsbereich zu halten, der (unter gegebenen Bedingungen) optimale Funktionsfähigkeit ermöglicht.

Positives Feedback verstärkt bzw. beschleunigt hingegen einen Vorgang (z.B. "explodierender" Natrium-Einstrom zu Beginn eines Aktionspotentials) - ein Endpunkt ist rasch erreicht, der Vorgang ist selbstlimitierend.


Homöostase Physiologische Einflussgrößen Regelkreis Rückkopplung

   Homöostase    Komponenten von Regelsystemen
  
Wie physiologische Systeme Stabilität erlangen

Physiologische Systeme halten ihre Zustandswerte in einem optimalen, physiologischen Bereich. Ohne die Fähigkeit, diese Werte fortlaufend zu messen (Rezeptoren) und in Komparator-Zentren mit "Sollwerten" zu vergleichen sowie dann allenfalls entsprechende Korrekturen vorzunehmen, könnte sich keine Stabilität ergeben. Lebende Systeme verhalten sich darüber hinaus nicht nur stabil, sondern auch adaptiv, d.h. sie sind in der Lage, ihre Funktionen an wechselnde Umgebungsbedingungen laufend anzupassen.
 
  
  Abbildung: Ein einfacher Regelkreis

Störung der Homöostase (hier: Blutdruckabfall) bewirkt über negative Rückkopplung (hier: hormoneller Regelkreis) eine Korrektur zurück zum gewünschten Zustandsbereich der "überwachten" Variablen (hier: Blutdruck)


Kombiniertes Rückkopplungsmodell s. dort       

     Unter Homöostase versteht man die Fähigkeit des Organismus, bestimmte Zustandsgrößen (z.B. Blutdruck, Blutzuckerspiegel...) in einem (unter bestimmten Bedingungen, z.B. körperliche und/oder psychische Ruhe) physiologisch vernünftigen Bereich (klinisch: Referenzbereich) zu halten (z.B. Ruheblutdruck nicht über 140/90, Nüchtern-Blutglucose zwischen 3,3 und 6,0 mM/l...).

Geregelt werden - direkt oder indirekt - so gut wie alle physiologischen Größen, Systeme und Zustände. Dabei sind die jeweiligen Werte nicht rigide fixiert, sondern sie schwanken um einen - meist - optimalen ("Soll-") Wert. Die Amplitude dieser Oszillationen hat dabei eine Größe, welche die Stabilität der Systeme nicht gefährdet, sind aber ausreichend, diese ständig herauszufordern bzw. ihre Funktion zu überprüfen und zu trainieren.

Beispiele: Körpergewicht, Blutdruck, Körpertemperatur, Blutzuckerspegel, Osmolalität, Energieumsatz, Hormonkonzentrationen, Blutverteilung - sie alle verändern sich ständig, aber ihre Schwankungsbreite (manchmal gering, z.B. Osmolalität, manchmal beträchtlich, z.B. Hormonkonzentrationen) erreicht kein destabilisierendes Ausmaß.
 

Abbildung: Ein Beispiel für komplexe Regelung
Nach: Gosman GG et al, Obesity and the role of gut and adipose hormones in female reproduction. Hum. Reprod. Update 2006; 12: 585-601

Das Fettgewebe meldet mittels Adipokinen (insbesondere Leptin) die Größe peripherer Langzeit- Energiespeicher an das Gehirn. Rückkopplung bezüglich des aktuellen Versorgungsstatus stammt von resorbierten Nährstoffen, neuronal-sensorischen und hormonellen Größen aus dem Darm.
  
Die Hormone GLP-1 (glucagon-like peptide) und GIP (glucose-dependent insulinotropic peptide) verstärken die Reaktion des endokrinen Pankreas auf den Nachschub von Nährstoffen, GLP-1 reduziert die Nahungsaufnahme.
  
Das Peptidhormon Ghrelin aus dem Magen stimuliert die Nahrungsaufnahme, Cholecystokinin (CCK) aus dem Dünndarm bremst sie ein. Neuronale Rückkopplung aus dem Darm zum nucleus tractus solitarii im Hirnstamm erfolgt über den Vagusnerven.
  
  
  Vgl. Insulin   Appetitkontrolle   Körpergewicht   Organkooperation


Hier liegt eine der Kernbotschaften der Physiologie (bezüglich der Stabilität von Lebensvorgängen): Lebende Systeme verhalten sich nicht statisch, sondern dynamisch; stabil, aber anpassungsfähig; die Zustände sind veränderlich, vermeiden aber üblicherweise gefährliche Schwankungen oder unangemessene Reaktionen. Das verleiht ihnen die für das Überleben in einer sich ebenfalls in Grenzen ständig verändernden Umwelt notwendige Widerstandsfähigkeit (Resilienz ).
 
Claude Bernard entwickelte um 1860 das Konzept des 'Milieu intérieur', dessen Stabilität Voraussetzung für "freies und unabhängiges" Leben sei ("La fixité du milieu intérieur est la condition d'une vie libre et indépendante") - heute würde man vielleicht eher den Begriff life support system mit Spekulationen über "unabhängiges" Leben assoziieren. Der Amerikaner Walter B. Cannon prägte den Begriff Fight-or-flight-response und entwickelte das Konzept der Homöostase in seinem 1932 erschienenen Buch "The Wisdom of the Body".
 
Physiologische Einflussgrößen
 
Physiologische Einflüsse auf die jeweilige Messgröße bestehen z.B. über

    Stoffwechselzustand (z.B. nüchtern vs. postprandial )

    körperliche Aktivität (z.B. Sauerstoffverbrauch, Blut-pH, Laktatspiegel, Temperatur, Herzfrequenz, Blutdruck, Blutzuckerspiegel, Hormonwerte...)

    Tageszeit (zirkadiane Rhythmen)

    Umweltfaktoren (z.B. Indifferenztemperatur)
 
    Körperlage (z.B. sitzend) sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie

    Alter

    Geschlecht

    Körpergröße

  Methodische Fehler: Auch die Methode der Erhebung des Messwertes kann das Ergebnis beeinflussen (z.B. Art des labormedizinischen Verfahrens, nichtinvasive Blutdruckmessung vs. Kathetermessung).
 
Regelkreis (control system)
 

Regelsysteme sind ein Konzept der Kybernetik (Wissenschaftliche Untersuchung von Steuerung und Regelung).

 
   Was die Bezeichnungen der verschiedenen Anteile eines Regelsystems betrifft, gibt es eine bunte Fülle davon:
 

Abbildung: Aufbau eines Regelkreises

Ein Fühler (Rezeptor) ermittelt die Größe des Istwertes einer Zustandsvariablen (z.B. Höhe des arteriellen Blutdrucks) und meldet ein proportionales Signal (Aktionspotentialfrequenz) an einen Regler (z.B. Kreislaufzentrum im Hirnstamm). Dieses Zentrum koordiniert alle für die Regulation der Zustandsvariablen relevanten Daten.
 
 Weicht das Messergebnis vom gewünschten Sollwert einer (abstrakten) Führungsgröße ab, wird an ein Stellglied (blutdruckwirksames Gewebe, z.B. Herzmuskel, Blutgefäße) eine entsprechende Stellgröße (Aktiospotentialfrequenz) gesendet, z.B. über den Sympathikus oder Äste des Vagusnerven


  
  Messfühler (measuring elements, z.B. Barorezeptoren ) ermitteln den aktuellen Wert (Istwert) der

     Regelgröße (actual value / status einer Variablen, z.B. arterieller Blutdruck) - ihr jeweils aktueller Betrag wird als Istwert bezeichnet und vom Regelsystem entsprechend einem "Sollwert" eingestellt bzw. nachgeführt

  
  Von außen (d.h. außerhalb des Regelkreises) kann die Regelgröße durch Störgrößen beeinflusst werden (z.B. nimmt die Förderleistung des Herzens ab, wenn man aus liegender oder sitzender Position aufsteht). Deren Einfluss soll durch den Regelkreis kompensiert, der Istwert stabilisiert werden (z.B. steigt die Pulsfrequenz an)

  
  Messsignale (Aktionspotentiale) senden Information über den Istwert der Regelgröße (afferentes Aktionspotentialmuster) an einen

     Regler (controller, der anhand einer Führungsgröße eine Abweichung vom Sollwert (error) erkennt - in diesem Beispiel der nucleus tractus solitarii, der für die Blutdruckregulation eine zentrale Rolle spielt).

  
  Der angestrebte Betrag wird als Sollgröße bezeichnet: Der Regler wird vom Sollwert (set point) einer Führungsgröße (z.B. aus dem Hypothalamus) gesteuert und sendet ein

  
  Steuersignal (Stellgröße, Stellsignal, command, z.B. Sympathikusaktivität oder hormonelle Antwort) zu einem

  
  Stellglied (effector, Zielzellen bzw. Organe, z.B. Gefäße, Herz, Niere - Regelstrecke), wo die betreffende Regelgröße beeinflusst werden kann.

Die Zustandsgröße (aktueller Betrag) einer Variablen (z.B. Blutdruck) - die
Regelgröße - soll innerhalb des "Regelbereichs" stabil gehalten oder entsprechend angepasst werden (Allostase ).

 

Abbildung: Stabilisierung der Körpertemperatur
Nach einer Vorlage bei Pearson Education, Benjamin Cummings 2013

Der Effektor entspricht dem "Stellglied" der kybernetischen Nomenklatur: Er beeinflusst die Regelgröße (in diesem Fall die Körpertemperatur). Der Regler liegt im Hypothalamus; er vergleicht Sollwerte (neuronale Vorgaben) mit Istwerten (aktuelle Temperatur an Wärme- und Kälterezeptoren in ZNS und an der Körperoberfläche)


Die Abbildung macht das Prinzip der negativen Rückkopplung am Beispiel der Regulation der Körpertemperatur deutlich: Hitze- bzw. kälteempfindliche Rezeptoren in Gehirn und Haut messen den aktuellen Wert der Zustandsvariablen, also der Temperatur (Istwerte). Die Information wird codiert (Aktionspotentiale) an das Zentrum geleitet (Afferenz).

Das Zentrum liegt in diesem Fall im Hypothalamus. Dieser gleicht die Eingangsgrößen mit neuronalen "Sollwerten" ab. Liegt eine Diskrepanz vor (zu kalt oder zu warm), werden Efferenzen an den entsprechenden Effektor gesendet: Ist der Körper zu warm, wird z.B. die Sudomotorik aktiviert - Schweiß tritt aus und kühlt die Haut durch Verdampfung ab. Ist er unterkühlt, wird Kältezittern aktiviert, was die Körpertemperatur ansteigen lässt.

Ein weiteres Beispiel (Details s. dort):

    Regelgröße: Thyroxinspiegel im Blutplasma

    Störgrößen: Anstieg / Abfall der Thyroxinfreisetzung

    Regler: hypothalamisch-hypophysäres System

    Stellglied: Achse TRH - TSH - Schilddrüse

    Auf diese Weise wird die jeweilige Regelgröße stabilisiert; die zirkuläre Verschaltung (daher Regelkreis) soll Änderungen der Regelgröße durch Störgrößen kompensieren.
 
 Rückkopplung (feedback)
 
  Negative Rückkopplung in Regelkreisen ermöglicht, dass ein Regler (z.B. das Kreislaufzentrum) auf eine Störung hin (z.B. Blutdruckanstieg) die Regelgröße (z.B. den Blutdruck) wieder normalisiert (formal: Vorzeichenumkehrung, daher "negatives" Feedback).

Die meisten physiologischen Rückkopplungen sind ihrer Natur nach negativ, d.h. Abweichungen von einem bestimmten (Soll-) Wert führen dazu, dass der Istwert der Regelgröße wieder in seinen (meist optimalen) Ausgangsbereich zurückgeführt wird (Regelsysteme).
 
  Zur (begrenzten) Verstärkung von Vorgängen kann positive Rückkopplung genutzt werden. Hier ist das Ziel nicht die Stabilisierung einer Regelgröße, sondern das rasche Erreichen eines neuen Bereichs der Zustandsgröße. Beispielsweise  Darüber hinaus sind positive Rückkopplungsschleifen meist in übergeordnete negative Rückkopplung eingebettet (Stabilität des Gesamtsystems).

Beispielsweise bremst Östradiol in der Regel die Sekretion von LH im hypothalamisch-hypophysären System (negative Rückkopplung). Am Ende der Follikelphase bewirkt der Östrogenanstieg nicht eine Bremsung, sondern eine explosive Steigerung der LH-Sekretion und FSH-Sekretion (positive Rückkopplung).

Positive Rückkopplung tritt im Körper nur in speziellen Situationen auf und ist selbstbegrenzend. Ist das nicht der Fall, droht ein gefährliches Entgleisen des Systems (circulus vitiosus). Beispiel: Dekompensierter Blutverlust führt zu Blutdruckabfall und Minderdurchblutung der Organe. Das bewirkt Gewebehypoxie und Freisetzung vasodilatierender Stoffe, was wiederum den Blutdruck weiter absenkt - mit fatalen Folgen.

Beispiele für limitierte positive Rückkopplung in der Physiologie:
 
   Beschleunigung des Natriumeinstroms in der ersten Phase eines Aktionspotentials (dies ist kein Endzustand, sondern transient, in diesem Beispiel limitiert durch anschließendes Erlöschen des Natriumeinstroms)

 

   Selbstverstärkung der Gerinnung im Sinne einer hämostatischen Kaskade (Ziel: Blutstillung)
 
  
Explosive Steigerung der LH- und FSH-Sekretion am Ende der Follikelphase (LH-surge)
 
   Wehentätigkeit während des Geburtsvorganges: Der tiefertretende Kopf des Babys verstärkt die Oxytozinausschüttung, was die Wehe weiter intensiviert. Der Vorgang endet mit der Geburt des Kindes

 
   Elektromechanische Kopplung im Herzmuskel: Calciumeinstrom aus dem Extrazellulärraum triggert die Freisetzung weiterer Calciumionen aus dem intrazellulären Calciumspeicher (sarkoplasmatisches Retikulum), was den kontraktionsauslösenden Effekt verstärkt

 
   Proteinverdauung im Magen: Sinkender pH-Wert im Magen aktiviert das proteolytische Enzym Pepsin. Dieses spaltet nicht nur Nahrungseiweiß, sondern auch seine eigene Vorstufe Pepsinogen, was die Proteinverdauung explosiv ansteigen lässt (Limitierung durch weitere Erniedrigung des pH-Wertes)

 






  Die Informationen in dieser Website basieren auf verschiedenen Quellen: Lehrbüchern, Reviews, Originalarbeiten u.a. Sie sollen zur Auseinandersetzung mit physiologischen Fragen, Problemen und Erkenntnissen anregen. Soferne Referenzbereiche angegeben sind, dienen diese zur Orientierung; die Grenzen sind aus biologischen, messmethodischen und statistischen Gründen nicht absolut. Wissenschaft fragt, vermutet und interpretiert; sie ist offen, dynamisch und evolutiv. Sie strebt nach Erkenntnis, erhebt aber nicht den Anspruch, im Besitz der "Wahrheit" zu sein.