Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
 

     
Grundlagen und Methoden der Physiologie; molekulare und zelluläre Aspekte
 
Zelle und elektrische Potentiale
© H. Hinghofer-Szalkay

Elektro-: ἤλεκτρον = Bernstein (an ihm wurde die Elektrizität zuerst beobachtet)
enzephalo-: ἐγκέφαλον = Gehirn
-graphie: γραφή = Schrift, Aufzeichnung
kardio-: καρδία = Herz
myo-:
μυς, μυός = Muskel
nystagmo-: νυσταγμός = Schläfrigkeit
oculo-: oculus = Auge
orthodrom: ὀρθοδρόμος = in die richtige Richtung (geradeaus) laufend
Patch-clamp-Technik:
patch = Fleck, Pflästerchen (Membranausschnitt unter der Patch-Pipette); to clamp = festklemmen (den
Membranpatch auf ein Potential)
retino-: rete = Netz (Retina = Netzhaut)



Aktionspotentiale bewirken bei ihrer Bewegung durch erregtes Gewebe elektromagnetische Potentialschwankungen. Entsprechende elektrische Signale kann man von Einzelzellen, Organen oder der Körperoberfläche ableiten. Dazu verwendet man Ableitelektroden und bezeichnet diese als different (durch die interessierenden Potentialschwankungen wesentlich beeinflusst) oder als indifferent (davon weitgehend unbeeinflusst, aber zur Komplettierung notwendig) bezeichnet.

Auch die Stellen, von denen abgeleitet wird, bzw. die davon ausgehenden Signale kann man als different oder indifferent bezeichnen - je nachdem, ob sie
unter dem Einfluss der interessierenden Potentialschwankungen stehen. Werden zwei differente Signale verglichen, handelt es sich um eine "bipolare" Ableitung (z.B. Einthoven-Schema eines EKG); ist nur eines different, ist die Ableitung "unipolar" (z.B. Wilson-Brustwandableitungen).

Die Registrierungen werden meist nach der Quelle des Signals bezeichnet - z.B. Kardio- (Herz), Enzephalo- (Gehirn), Myo- (Muskel), Okulo- (Auge), Retinogramm (Netzhaut) - oder nach der Art des erwarteten Signalmusters (z.B. Nystagmogramm).

Die meisten klinisch verwendeten Ableitungen sind nichtinvasiv; für spezielle Fragestellungen werden Elektrodem in den Körper eingebracht (invasiv). Liegen die Elektroden außerhalb von Zellen, handelt es sich um extrazelluläre Ableitungen. Das Einbringen von (Glaskapillar-) Elektroden in Zellen macht deren Membranpotential messbar (keine Routinemaßnahme - neurophysiologische Forschung), man spricht von intrazellulären Ableitungen.

  
Einführung Membranpotential Differente / indifferente Punkte Erfassung neuronaler Aktivität: Ableitungen

   Membranpotential    Reiz    (in) different    uni-vs. bipolare Ableitung

Core messages

  Über elektrophysiologische Grundlagen s. dort
   
Aktivität von Nervenzellen erzeugt Ionenströme

Elektrischer Strom, der durch Zellwände (z.B. von Nervenfasern) dringt, wird von Ionen getragen, die durch Ionenkanäle in der Zellmembran fließen. Dieser Ionenstrom - z.B. Einströmen von Na+ in eine Zelle bei deren Erregung, Ausströmen von K+ zur Herstellung des Membran- (Ruhe-) potentials - ist die Grundlage elektrophysiologischer Vorgänge (wie Entstehung und Leitung von Aktionspotentialen) und der Funktion von Sinnesorganen, zentralen Verrechnungsprozessen (inklusive homöostatischer Vorgänge wie Atem-, Kreislauf-, Osmoregulation) sowie Motorik (Bewegung, Kraftentfaltung) und oft auch Sekretion.
 

Abbildung: Elektrookulographie (EOG)
Nach Vorlagen bei Kherlopian AR et al, Electrooculogram based system for computer control using a multiple feature classification model. Proc 28th IEEE EMBS Ann Int Conference NY City, sept 2006; und biology-forums.com

Oben: Die Augen (vorne positiv, rückwärts negativ geladen) verändern bei ihrer Bewegung die Gestalt der sie umgebenden elektrischen Felder, und dementsprechend verändert sich auch das Potential an der Haut im Gesichtsbereich. Das ist von der Körperoberfläche her ableitbar (in diesem Beispiel in der Vertikalebene).
 
Unten: Registrierbeispiel eines Elektrookulogramms. Die Person führt kreisförmige Augenbewegungen durch, die horizontalen und vertikalen Bewegungen sind dementsprechend phasenverschoben. Position der Ableiteelektroden als rote Punkte gezeigt


Spezielle elektrophysiologische Ableitungen sind z.B. Elektro-
Kardio- (EKG),
Enzephalo- (EEG),
Myo- (EMG),
Okulo- (EOG) ( Abbildung),
Retino- (ERG),
Nystagmographie (ENG).

Dies sind Beispiele für die Registrierung der elektrischen Aktivität großer Gewebepartien oder ganzer Organe. Sie sind das Ergebnis der Integration der Potentialveränderungen an sehr vielen einzelnen Zellen. Will man deren Elektrophysiologie unter die Lupe nehmen, ist es notwendig, in den Mikrobereich zu gehen (siehe unten: extrazelluläre und intrazelluläre Ableitungen). Es ist sogar möglich, winzige Membranstücke mit eingelagerten Ionenkanälen zu untersuchen (Patch clamp Technik), den Verlauf des Membranpotentials einzelner Zellen zu registrieren und gegebenenfalls zusätzlich die ionale Zusammensetzung der Flüssigkeit an der Außen- und/oder Innenseite der Zellmembran zu manipulieren.

  Zur Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) s. dort
 

Membranpotential
  
     Als Membranpotential (Vm) bezeichnet man den Unterschied des elektrischen Potentials (der Spannung) zwischen der Innenseite (Vin) und der Außenseite (Vex) einer Zellmembran (Vm = Vin - Vex). Bezieht man sich auf das Potential an der Außenseite als Bezugsgröße (auf diese Konvention hat man sich geeinigt), ist [Vex] = 0 und der Betrag des Membranpotentials definitionsgemäß gleich [Vin] - bei nicht aktivierten Nervenzellen meist -60 bis -70 mV ("Ruhepotential").

Die Zellmembran ist Angriffspunkt für Kontaktstellen zwischen mehreren Zellen, die der mechanischen Festigkeit dienen (zwischen Epithelzellen, Herzmuskelzellen) oder der Verbindung der Zellinnenräume, was den Austausch von Stoffen oder das Fließen von elektrischen Membranströmen ermöglicht (Weiterleiten von Aktionspotentialen: Signalfunktion).

Solche Verbindungskanäle finden sich zwischen glatten Muskel- und Herzmuskelzellen und ermöglichen die Fortpflanzung von Aktionspotentialen, z.B. im Lauf eines Herzschlags.
 

  Abbildung: Elektrophysiologische Versuchsanordnung

Ableitelektroden am Daumenballen, Reizelektrode am Nerv. Nach elektrischer Reizung des Nerven können vom Muskel Aktionspotentiale abgeleitet werden. Ist die Signalüberleitung gestört, macht sich das durch Veränderungen der abgeleiteten Potentialmuster bemerkbar


Das Verständnis bioelektrischer Vorgänge beruht auf zellphysiologischen Grundtatsachen. Kaliumionen sind in der Zelle 30-mal höher konzentriert als extrazellulär. K+ diffundiert daher aus der Zelle und lädt die Membran zum Ruhepotential auf (innen negativ, außen positiv) die elektrische Spannung beträgt bis zu ~90 mV (Millivolt), z.B. bei Skelettmuskelfasern.

Grundlage solcher elektrischer Potentiale sind Ionenbewegungen durch die Zellmembran. Diese werden durch komplex strukturierte Öffnungen ("Kanäle", "Permeasen") für Natrium-, Kalium-, Chlorid-,
Calcium- oder Magnesiumionen geschleust.
 
     Das Ruhepotential der Zellen beruht im Wesentlichen auf einem Kaliumpotential.

 

Schon Luigi Galvani stellte um 1780 Zusammenhänge zwischen elektrischer und Muskelaktivität fest, und der deutsche Physiologe Emil Du Bois-Reymond konnte um 1840 „tierische Elektrizität“ nachweisen und präsentierte 1849 Ableitungen elektrischer Muskelaktivität. Seine Forschungen waren die Grundlage zur Entwicklung elektromedizinischer Diagnosemethoden wie EKG, EEG und EMG. 1922 entwickelten Joseph Erlanger und Herbert Gasser ein Oszilloskop, mit dem Muskelaktionspotentiale aufgezeichnet werden konnten.

In die klinische Routine fanden EEG, EMG etc. erst im 20. Jahrhundert Eingang, insbesondere mit der Entwicklung moderner Elektronik

 

Was versteht man unter einem Reiz?

Das Ruhepotential ändert sich, wenn eine Zelle gereizt wird. Ein Reiz verändert die Ionenleitfähigkeit der Membran und damit das Membranpotential - er kann es erhöhen (Hyperpolarisation) oder verringern (Depolarisation der Membran).

     Ein Reiz ist - allgemeiner gefasst - jede Veränderung von Umgebungsbedingungen, auf die ein lebendes System (Zelle, Organ, Organismus..) reagiert, d.h. auf den Reiz mit veränderten Eigenschaften / Aktivitäten antwortet.

Bei der Untersuchung physiologischer Systeme werden Reiz-Reaktions-Muster zur Analyse von deren Eigenschaften herangezogen - qualitativ und quantitativ.
  

Abbildung: Reizinduzierte Aktivität einer kortikalen Nervenzelle bei einer Ratte
Nach Larkum ME, Kaiser KMM, Sakmann B. Calcium electrogenesis in distal apical dendrites of layer 5 pyramidal cells at a critical frequency of back-propagating action potentials. PNAS 1999; 96: 14600-4

Links: Konfiguration der Ableiteelektroden entlang einer Nervenzelle. Die untere Mikroelektrode leitet vom Soma (Körper der Nervenzelle, Ursprungsort der Aktionspotentiale) ab, die oberen beiden sind vom Soma 340 bzw. 670 µm entfernt positioniert (gestrichelte Linie: Nullpotential für die obere Ableitung) und registrieren Entladungen am Dendritenbaum.
 
Elektrische Stimulation wurde am Soma gesetzt (Ableitungen Mitte: 70 Hz, rechts: 100 Hz Frequenz). Bei 100 Hz Reizfrequenz erkennt man eine Steigerung der Intensität konsekutiver Aktionspotentiale an der peripheren (oberen) Ableitestelle


 
Tritt der Reiz nicht singulär auf (wie in einer artefiziell-experimentellen Untersuchungssituation), sondern wirken mehrere Reize gleichzeitig / kurz nacheinander auf das System ein (was in der Realität die Regel ist), wird die Sache zunehmend komplex, und es wird immer schwieriger, die physiologische Antwort auf eine gegebene Reizkombination vorherzusagen. Ähnlich wie bei einer Wettervorhersage können bei mehrmaliger Simulation mit denselben Anfangsbedingungen unterschiedliche Resultate herauskommen.

Das trifft z.B. auch auf die Kombination mehrerer Medikamente (Polypharmazie: gleichzeitiger Gebrauch mehrerer Arzneimittel) zu - auch bei gutem Verständnis der Dynamik und Kinetik der Einzelsubstanzen kann die Wirkung mehrerer synchron und/oder über längere Zeit verabreichter Pharmaka zusehends schwerer voraussehbar sein.
 
"Differente" vs. "indifferente" Ableitepositionen
  
   Membranpotentiale bzw. elektrische Erregungsmuster können aus dem Gewebe mittels Ableite-Elektroden dargestellt werden, die mit einem Verstärker- bzw. Registriersystem verbunden sind.

     Dabei unterscheidet man

    "differente" Elektroden bzw. Positionen, d.h. solche, deren Potential durch das interessierende Biopotential (bzw. dessen Veränderung) wesentlich beeinflusst wird und dieses darstellen;

 
  "indifferente" Elektroden bzw. Positionen, die einen Vergleichswert liefern, der nicht mit dem interessierenden Biopotential (dessen Veränderung) variiert.

Beispiel: Bei den Wilson-Brustwandableitungen des EKG stellen die Brustwandelektroden die differenten Ableitepositionen dar; der Zusammenschluss der drei Extremitätenpotentiale (von rechtem und linkem Handgelenk sowie linkem Fußgelenk) ergibt ein indifferentes Vergleichspotential.
 
Ableitungen
 
Extrazelluläre Ableitungen Intrazelluläre Ableitungen Patch-clamp-Verfahren
 
  
Abbildung: Saugelektrode

Klassisches Design einer EKG-Elektrode. Der Gummiball wird zwischen den Fingern einer Hand zusammengedrückt und die Elektrode an der Kontaktfläche auf die Haut aufgesetzt. Dann wird der Ball losgelassen, der seine ursprüngliche Form wieder zu erlangen trachtet. Der dabei entstehende Unterdruck befestigt die Elektrode an der Körperoberfläche


Eine Ableitung stellt den Vergleich des elektrischen Potentials an zwei Positionen dar, an denen Ableitelektroden liegen.

     Da es differente und indifferente Ableitungspositionen gibt, unterscheidet man

       unipolare Ableitungen, d.h. solche, welche das Potential einer differenten Position mit dem einer indifferenten Position vergleichen (z.B. Wilson-Ableitungen des EKG), und

       bipolare Ableitungen, d.h. solche, welche das Potential einer differenten Position mit dem einer zweiten differenten Position vergleichen (z.B. Einthoven-Ableitungen des EKG).
 
  Invasivität: Elektrophysiologische Ableitungen können - von der Haut - nichtinvasiv erfolgen, was den Vorteil der Schmerzfreiheit und Ungefährlichkeit hat (kaum Infektionsgefahr, keine Verletzung), aber den Nachteil schwächerer und weniger klarer elektrischer Signale (Dämpfung durch dazwischenliegendes Gewebe mit entsprechendem elektrischen Widerstand und elektrischer Kapazität, d.h. Ladungsaufnahme).

Bringt man die Elektroden ins Gewebe ein, ist die Ableitung invasiv. Solange die Elektrode nicht in eine Zelle eindringt, bleibt die Ableitung extrazellulär, sie kann z.B. die Potentialdifferenz zwischen erregtem ("entladenem") und unerregtem Gewebe erfassen. Sticht man eine Glaselektrode durch die Außenmembran einer Zelle, wird das Membranpotential messbar (innen gegen außen - intrazelluläre Ableitung) - vorausgesetzt, die Zelle "überlebt" diesen Vorgang (was umso wahrscheinlicher ist, je größer die Zelle bzw. je feiner das Ableitesystem ist).

Genaue Untersuchugen z.B. des Zusammenspiels zahlreicher Nervenzellen in ihrem physiologischen Verbund sind Beschränkungen unterworfen; so lassen sich solche komplexen Fragestellungen an Schnittpräparaten durchführen, deren Neuronen in vitro für einige Zeit weiterleben
. Die Aussage der Resultate solcher Untersuchungen ist entsprechend beschränkt, weil über das Präparat ursprünglich vorhandene Verbindungen zu entfernter liegenden Neuronen durch die Präparation naturgemäß zerstört worden sind. Andererseits ist die Interaktion mehrerer Zellen so komplex, dass es mit zunehmender Größe von Präparat und Fragestellung immer schwieriger wird, sinnvolle kausale Strukturen festzumachen ( s. auch dort).

Durch Anwendung sogenannter Multiple Microelectrode Arrays kann eine synchrone Vielkanal-Ableitung von zahlreichen (wie auf einem Schachbrettmuster angeordneten) Ableitestellen Aufschluss über die Kommunikation mehrerer unverletzter Neuronen bringen (die gleichzeitig unter dem Mikroskop beobachtet werden können). Auf diese Weise sind gleichzeitig mehrere hundert Registrierungen der neuronalen Aktivität eines Nervenzellverbandes möglich.
 

Man unterscheidet drei prinzipielle Möglichkeiten, um neuronale Aktivität zu registrieren: Extrazellulär (extracellular recording), intrazellulär (intracellular recording) sowie Ganzzell-Registrierungen (whole-cell recording):
 
Extrazelluläre Ableitungen
 
Bei extrazellulären invasiven Ableitungen liegen beide (oft isolierte Stahl-) Ableitelektroden im Extrazellulärraum, die elektrisch aktiven Zellen werden (meist) nicht verletzt.
 

 Abbildung: Multielektroden-Arrays
Nach einer Vorlage in Liqun Luo, Principles of Neurobiology, 2nd ed. CRC Press 2021

Links: 10x10 -Array. Anordnungen wie diese werden experimentell für Registrierungen kortikaler Aktivität sowie für neuroprosthetische Zwecke verwendet: Dabei wird das Entladungsmuster motorischer Kortexneurone registriert und von einem Computer in periphere Steuerbefehle umgesetzt.
 
Rechts: Unterer Abschnitt einer Neuropixel-Sonde. Elektrische Signale können von mehreren hundert Ableitepunkten aus unterschiedlicher Tiefe des Kortex (oder von anderen Neuronengruppen) synchron registriert werden.


Solche extrazellulären Ableitungen eignen sich zur Darstellung von Entladungsmustern und bieten präzisere Bilder als Ableitungen von der Körperoberfläche (näher am Ort der Ladungsveränderungen: höhere Feldstärken, weniger Widerstand, aktive Zellen im Ableitungsbereich weniger zahlreich → elektrische Muster klarer interpretierbar). Kommt die Spitze der Ableiteelektrode nahe am Zellkörper einer Nervenzelle zu liegen, registriert man das Entladungsverhalten dieser "Einheit" (single-unit recording).

Das transmembranale Potential ist auf diese Weise nicht erfassbar (Dabei können auch Multielektroden-Arrays zur Anwenung kommen; das geht nur mit intrazellulären Ableitungen), aber extrazelluläre Methoden sind nach wie vor das führende Verfahren für die Registrierung neuronaler Aktivität in vivo. Multielektroden-Arrays können auch zahlreiche (bis zu mehrere hundert) parallele Registrierungen aus einem Gewebeblock liefern (
Abbildung).

Extrazellulär abgeleitete Potentialverläufe integrieren meist zahlreiche von einzelnen Nerven- und/oder Muskelfasern stammende Aktionspotentiale: Summenaktionspotential (compound action potential), z.B. bei der Bestimmung von Nervenleitgeschwindigkeiten oder bei der Elektromyographie. Auch diese methodischen Ansätze können invasiv durchgeführt werden, in der Regel erfolgen sie aber von der Oberfläche der intakten Haut, also nichtinvasiv, wie die folgende Abbildung zeigt:
 

Abbildung: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (schematisch)
Nach einer Vorlage in Berkowitz AL, Clinical Neurology & Neuroanatomy: A Localization-Based Approach, 2nd ed. Mc Graw Hill 2022

  Ein elektrischer Reiz löst Aktionspotentiale an einem Nerv aus. Ausgehend von der Reizstelle (roter Punkt) breiten sich diese in beide Richtungen fort - die orthodrome Richtung ist bei sensiblen Fasern zum ZNS (so wie in der Abbildung), bei motorischen zum Muskel bzw. dessen motorischen Einheiten.
 
Die Ableiteelektroden liegen an den Stellen 1 und 2. A ist die Strecke vom Reizort bis Position 1,  B ist die Strecke 12.  A' bedeutet die Dauer vom Reizzeitpunkt bis zum Durchlauf bei 1, B' diejenige für den Durchlauf von 1 zu 2. Die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) ergibt sich aus der Strecke B dividiert durch die Zeit B'


Solche Summenaktionspotentiale werden bei Untersuchungen der Erregungsfortpflanzung (nerve conduction studies) registriert, insbesondere zur Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (CV: nerve conduction velocity), definiert als Betrag der Laufstrecke (Stelle 1 bis Stelle 2) dividiert durch die für die Aktionspotentialpassage benötigte Zeit (
Abbildung).

Man unterscheidet dabei motorische (CMAPs: compound muscle action potentials,
compound motor action potentials) von sensorischen Potentialen (SNAPs: sensory nerve action potentials). Bei CMAPs kann Beginn der ausgelösten Muskelkontraktion als Kriterium für die Ankunft des Aktionspotentials an "Stelle 2" dienen. Bei SNAPs wird meist peripher stimuliert und zentral von der Reizstelle registriert.

Erfolgt die Erregungsausbreitung
im Sinne der physiologischen Richtung des Aktionspotentialablaufs, nennt man sie orthodrom ; bei SNAPs kann die Position der Elektroden auch ausgetauscht werden, die Aktionspotentiale breiten sich in diesem Fall antidrom aus.
  Intrazelluläre Ableitungen
 
Intrazelluläre Ableitungen erfordern das Eindringen einer der beiden (gläsernen, flüssigkeitsgefüllten Glas-) Mikroelektroden in eine elektrisch aktive Zelle ( Abbildung). Sie bieten bessere Sensitivität und gutes Signal-Rausch-Verhältnis, d.h. hohen Quotienten gewünschte / unerwünschte Signalstärke (signal-to-noise ratio). Sie ermöglichen nicht nur die Messung des Ruhepotentials, sondern auch seiner unterschwelligen Änderungen (synaptische exzitatorische / inhibitorische, auch gap junction-Signale). Allerdings funktionieren sie nur bei großen Neuronen; kleine Neurone können mit patch-clamp- Methoden untersucht werden (s. unten).
 

Abbildung: Intrazelluläre Ableitung
Nach einer Vorlage in Kandel / Koester / Mack / Siegelbaum (eds), Principles of Neural Sciences, 6th ed. 2021 (McGraw Hill)

Mit einer konzentrierten Salzlösung gefüllte Glas-Mikropipetten dienen als Ableitelektroden. Metalldrähte tauchen in die Lösung und verbinden die Elektroden mit der Elektronik (Verstärker, Bildschirm). Eine Elektrode bleibt an der Außenseite der untersuchten Nervenzelle (extrazelluläres Bezugspotential).
 
Solange beide Elektroden extrazellulär positioniert sind, wird kein Potentialunterschied gemessen (links).
 
Dann wird die zweite Elektrode (Durchmesser der Spitze <1 µm) durch die Membran der Nervenzelle gestochen, wodurch diese keinen wesentlichen Schaden erleidet. Durch die hohe Impedanz des Ableitekreises bleibt auch das Membranpotential der Zelle erhalten - das intrazelluläre Potential wird messbar.
 
Ist die Zelle unerregt (trotz Einstechen der Mikroelektrode), entspricht die abgeleitete Spannung dem Ruhepotential der Nervenzelle (meist zwischen -60 und -70 mV)

Solche Ableitungen sind technisch schwierig zu bewerkstelligen, können aber das transmembranale Potential (Ruhepotential) darstellen ( Abbildung). Mikroelektroden, die intrazellulär positioniert werden, werden aus Glas gefertigt und sind zur Vermeidung von Messfehlerquellen mit einer Flüssigkeit befüllt, welche hinsichtlich Kationen (Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium, Wasserstoffionen) sowie Anionen (Chlorid, Bicarbonat, Phosphat) und deren Konzentrationen der intrazellulären Zusammensetzung entspricht und die Membran bzw. deren Ladung möglichst wenig beeinflusst.

Man kann Mikroelektroden auch nützen, um parallel zur intrazellulären Ableitung Reizströme durch die (benachbarte) Membran der Nervenzelle zu leiten. Dadurch läßt sich
die Reaktion des Membranpotentials auf Depolarisierung (Abschwächung des Membranpotentials) oder Hyperpolarisierung (Verstärkung des Membranpotentials) gezielt und abgestuft darstellen. So kann man Veränderungen an spannungsgesteuerten Ionenkanälen untersuchen (Patch-clamp-Methode - Beobachtung des "geschlossen-oder-offen"- Mechanismus der Kanäle) und das Schwellenpotential (ab diesem können Aktionspotentiale ausgelöst werden) bestimmen.

Optische Registrierung: Membranpotentiale bzw. deren Zeitverlauf können nicht nur elektrisch - mittels (Mikro-) Elektroden -, sondern auch optisch ermittelt werden. Dazu bringt man Farbstoffe oder fluoreszierende Marker in die Zellmembran ein, deren Farbe bzw. Lichtemission sich mit dem Betrag des Membranpotentials ändert. Man kann dann den Zeitverlauf des Membranpotentials mittels einem System aus Spiegel und Photodetektor registrieren - er ist mit dem des elektrisch registrierten Potentialverlaufs so gut wie identisch.

 
Patch-Clamp- Methode und Ganzzell-Ableitungen
 

Elektrophysiologische Grundlagen können über das Verhalten von Ionenkanälen in Zellmembranen sehr differenziert untersucht werden ( Abbildung):
 

  Abbildung: Patch-Clamp-Ableitung
Nach einer Vorlage in Boron W, Boulpaep E: Medical Physiology, 3rd ed., Elsevier 2016

An einem Fleckchen isolierter Zellmembran wird das Öffnungsverhalten einzelner Ionenkanäle bei vorgegebener Membranspannung untersucht.
 
Die Spitze einer mit Salzlösung gefüllten Pipette - die via Elektroden mit einem elektronischen Verstärkersystem verbunden ist - wird an die Zellmembran herangeführt. Leichter Unterdruck in der Pipette dichtet einen kleinen Flecken (patch) Zellmembran gegen die Umgebung ab (A).
 
B-G: Je nach Sog und Manipulation an der Membran können verschiedene Konfigurationen erreicht werden, bei denen die gewünschte Seite des Ionenkanals (extrazellulär oder zytoplasmatisch) untersucht werden kann. Dazu wird an den Kanal eine konstante Spannung angelegt (voltage clamp) und das Strömungsverhalten der Ionen registriert


Mit einer sehr feinen Glaspipette saugt man ein Stückchen Zellmembran (ca. 1 µ2 Durchmesser) an und kann dann in vitro bei vorgegenener Membranspannung ("voltage clamp") die Bewegung von Ionen durch die Membran untersuchen.

  Die Patch-Clamp-Methode ermöglicht den direkten Nachweis von einzelnen Ionenkanälen in Zellmembranen. Sie wurde 1976 von den deutschen Forschern Erwin Neher und Bert Sakmann entwickelt; 1991 wurde ihnen "Für ihre Entwicklung einer Methode zum direkten Nachweis von Ionenkanälen in Zellmembranen zur Erforschung der Signalübertragung innerhalb der Zelle und zwischen den Zellen" der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen.
 
Ionenkanäle können ihre räumliche Organisation und damit ihren Zustand ändern, abhängig von inneren und äußeren Einflüssen: Anlagerung von Agonisten / Antagonisten an bestimmte Bindungsstellen der Kanalproteine (außen z.B. Transmitter, innen z.B. zyklische Nukleotide); einige lassen sich durch Kationen (Mg++, Ca
++, Na+) blockieren, andere durch Moleküle wie Polyamine (z.B. Spermin). Viele ändern ihre Eigenschaften mit dem Membranpotential (sie sind "spannungsgesteuert"), andere mit ihrer Phosphorylierung, wieder andere mit mechanischen Einflüssen (sie sind "mechanorezeptiv").
 
Ionenkanäle können in geöffnetem oder geschlossenen Zustand vorliegen; dabei kann sich die Anordnung polarer Anteile von Aminosäuren ändern, und damit die Permeabilität für "Kanalpassagiere".
 

Abbildung: Patch-clamp-Registrierung der Öffnung einzelner Ionenkanäle
Nach einer Vorlage in Ritter / Flower / Henderson / Loke / MacEwan / Rang, Rang & Dale's Pharmacology, 9th ed. Elsevier 2020

Ableitung von einem Membranfragment, das von einer motorischen Endplatte mittels Mikroelektrode gewonnen wurde. Die Pipette enthielt eine Lösung mit 10 µM Acetylcholin.
 
Ausschläge nach unten zeigen den Ionenstrom durch einen oder zwei offene Ionenkanäle. Der Wechsel
des Kanalzustandes folgt einem Alles-oder-Nichts- Muster (flip-flop), entsprechende Veränderungen des Ionenstroms (in Pikoampere angegeben) erfolgen sprunghaft

  Mehr zu Ionenkanälen s. dort
  
Ganzzell-Ableitungen (whole cell recording): Hat man ein Stück unversehrte Zellmembran mit einem Kanalprotein "angesaugt", kann man letzteres durch sanften Unterdruck aus der Membran entfernen. Durch das entstandene mikroskopisch kleine Loch ist ein Kontinuum zwischen Pipettenflüssigkeit und Intrazellulärraum entstanden. Auf diese Weise ist eine direkte elektrische Verbindung zur intrazellulären Flüssigkeit gegeben, sodass das Membranpotential registriert werden kann, ohne dass die Pipette durch die Membran gestoßen werden muss (wie bei der klassischen intrazellulären Ableitung). So ist eine schonende Untersuchung auch kleiner Neurone möglich.
 

 
      Kaliumionen sind in der Zelle 30-mal höher konzentriert als extrazellulär - wegen der Aktivität der Na/K-ATPase - und laden bei ihrem Versuch, aus der Zelle zu diffundieren, die Membran zum Ruhepotential (bis zu ~90 mV) auf (innen negativ, außen positiv: Darauf beruht das Ruhepotential der Zellen). Ionen (hydrophil) können durch Biomembranen (hydrophob) nur dann diffundieren, wenn sie geeignete Permeasen ("Kanäle") finden - Richtung und Intensität ihrer Bewegung hängt vom Membranpotential und dem Konzentrationsgradienten des betreffenden Ions ab
 
   Permeasen sind aus Proteinkomplexen aufgebaut und von komplexer Funktion. Sie können mehr oder weniger selektiv den Durchtritt von Natrium-, Kalium-, Chlorid-, Calciumionen etc. zulassen (Natriumpermeasen, Kaliumpermeasen etc.). Das Verhalten einzelner Permeasen lässt sich mit der Patch-Clamp-Methode untersuchen
 
      Ein Reiz ist ein Einfluss, der den Zustand und das Potential von Biomembranen verändert (hyperpolarisiert / depolarisiert)
 
      Potentialveränderungen können von Zellen, Organen oder der Körperoberfläche mittels Ableitelektroden registriert werden. Man unterscheidet "differente" Elektroden bzw. Positionen (ihr Potential wird deutlich vom interessierenden Signal beeinflusst) von "indifferenten" (liefern ein Referenzpotential). Eine Ableitung vergleicht das elektrische Potential zweier Ableitepunkte (Positionen, an denen Ableitelektroden liegen) bzw. -konfigurationen
 
      Membranpotentiale können durch intrazelluläre Ableitungen registriert werden: Eine mit einer Elektrolytlösung gefüllte Mikroelektrode dringt durch die Zellmembran und leitet das intrazelluläre Potential ab. Bei der Patch-clamp-Methode werden kleine Membranstücke mit einem darin befindlichen Ionenkanal untersucht. Entfernt man diesen Kanal durch sanften Unterdruck, kann über das entstandene Loch in der Membran eine "Ganzzell-Ableitung" vorgenommen werden - eine Art intrazelluläre Ableitung mit weitgehend intakter Membran. Invasive extrazelluläre Ableitungen können von vielen Stellen gleichzeitig erfolgen (Multielektroden-Arrays), die Ableitepunkte bleiben extrazellulär. Nichtinvasive extrazelluläre Ableitungen (meist von der Haut) sind weniger aufwendig und erfassen typischerweise die Aktivität eines ganzen Organs, z.B. des Herzens. Da es differente und indifferente Ableitungspositionen gibt, unterscheidet man unipolare Ableitungen (Potential einer differenten im Vergleich zu einer indifferenten Position, z.B. Wilson-Ableitungen des EKG) und bipolare Ableitungen (Potentialunterschied zweier differenter Punkte, z.B. Einthoven-Ableitungen des EKG)
 

 




  Die Informationen in dieser Website basieren auf verschiedenen Quellen: Lehrbüchern, Reviews, Originalarbeiten u.a. Sie sollen zur Auseinandersetzung mit physiologischen Fragen, Problemen und Erkenntnissen anregen. Soferne Referenzbereiche angegeben sind, dienen diese zur Orientierung; die Grenzen sind aus biologischen, messmethodischen und statistischen Gründen nicht absolut. Wissenschaft fragt, vermutet und interpretiert; sie ist offen, dynamisch und evolutiv. Sie strebt nach Erkenntnis, erhebt aber nicht den Anspruch, im Besitz der "Wahrheit" zu sein.