Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
 

  
Körperhaltung und Motorik
 
  Untersuchung motorischer Systeme
© H. Hinghofer-Szalkay

Elektroencephalogramm: ἤλεκτρον = Bernstein (erste Beobachtung von Elektrizität), ἐγκέφαλον = Gehirn, γραφή = Aufzeichnung
Elektromyogramm:
μυς, μυός = Muskel, γραφή = Schrift, Aufzeichnung
H-Reflex: Paul Hoffmann
Spastik: σπασμός = Krampf
Libet-Versuch: Benjamin Libet
Plegie: πληγή  = Schlag (Lähmung)
Rigor: rigor = Starrheit
Spastik: σπασμός = Krampf
Wundt-sche Uhr: Wilhelm Wundt


Die Motorik wird auf verschiedenen Funktionsebenen überprüft; die Testung des Muskeltonus sowie einfacher Reflexe (z.B. Patellarsehnenreflex) gehören zum Grundrepertoire (Reflexhammer des Neurologen).

Muskeltätigkeit bringt Veränderungen im Stoffwechsel mit sich; bei Überschreitung der anaeroben Schwelle nimmt der Laktatspiegel im Blut zu (Laktatschwelle) und bewirkt nicht-respiratorische Azidose.

Motorische Efferenzen lassen sich überprüfen, indem die Ankunftszeit der Erregung am Muskel nach Reizung des motorischen Kortex gemessen wird.

Ein Elektromyogramm ist die Ableitung motorischer Potentiale aus einem Muskel (invasiv durch Einstech-, nichtinvasiv über Hautelektroden). Je stärker die Aktivierung, desto mehr motorische Einheiten senden - mit zunehmender Frequenz - ein- bis dreiphasige Entladunspotentiale. Bei hoher Aktivierungsstärke verschmelzen diese zu einem Interferenzmuster.

Untersuchungen der motorischen Planung und Kontrolle im Großhirn kann mit verschiedenen Methoden erfolgen (EEG mit Untersuchung prämotorischer Potentiale, Magneto-Enzephalographie, verschiedene bildgebende Verfahren).


Übersicht Stoffwechsel  T- und H-Reflex, M-Welle und H-Welle Prämotorische Potentiale Transkranielle Magnetstimulation Elektromyographie
   Muskeltonus

Praktische Aspekte        Core messages
  
Die Beurteilung motorischer Systeme umfasst subjektive und objektive Kriterien

Wie auch bei anderen systemischen Untersuchungen, orientiert man sich bei der Einstufung motorischer Störungen nicht nur an kurzfristigen Beobachtungen (z.B. Reflexprüfung) und Messergebnissen (z.B. EMG), sondern berücksichtigt auch Beschwerden (z.B. rasche Ermüdung), die von der betroffenen Person angegeben werden. In jedem Fall ist die Komplexität möglicher Hintergründe motorischer Störungen (psychisch? zentral? peripher? sensorisch? efferent? metabolisch?) im Auge zu behalten.
 

Abbildung: Sensorisch-zerebrale Koordination der Motorik

Das Gehirn entwirft Bewegungsprogramme und berücksichtigt bei deren Ausführung alle für die
Somatomotorik relevanten Informationen aus den Sinnesorganen (Körperposition, Zustand der Muskeln / Sehnen / Gelenke, Positionierung in der Umwelt, mögliche Hindernisse etc).
 
Treten Diskrepanzen zu den intendierten Zielen auf, wird die Motorik entsprechend angepasst


    Als Muskeltonus bezeichnet man den 'plastischen' Dehnungswiderstand willkürlich entspannter Muskulatur. Man prüft ihn durch passives Hin- und Herbewegen in den Gelenken (tonischer Dehnungsreflex) und beurteilt den unwillkürlichen Muskelwiderstand
 
      an der Nacken- und Halsmuskulatur durch Hochheben des Kopfes oder durch den 'Kopffalltest'
 
      an der Muskulatur der Arme durch Beugen und Strecken im Schulter- und Ellbogengelenk (evt. Händeschütteln)
 
      an der Muskulatur der Beine durch Beugen und Strecken im Hüft- und Kniegelenk.
Probanden werden aufgefordert, völlig entspannt zu bleiben und die vom Untersucher durchgeführten Bewegungen weder 'mitzumachen' noch 'dagegenzuhalten'.

Das Erkennen / Vermeiden willkürlicher Mitbewegungen wird erleichtert durch

     Seitenvergleiche und
 
     Änderung der Bewegungsgeschwindigkeit.
 
  Über Ergometrie s. dort
 
Stoffwechsel
 
Die Aktivität der Muskulatur steht mit so gut wie allen Teilsystemen des Organismus in Zusammenhang. Mit der Erhöhung der Muskeldurchblutung kommt es zu einer Steigerung des Herzminutenvolumens (bis ~4-fach), der Ventilation (bis ~20-fach) und des Sauerstoffverbrauchs (ebenfalls bis ~20-fach - diese Zahlen gelten für Hochtrainierte). Immer kommt es zu einer Erhöhung der Laktatproduktion: Der aktivierte Muskel erhöht die Kapazität der oxidativen Energiegewinnung, ein Teil der Energie wird aber anoxidativ gewonnen, insbesondere zu Beginn der Belastung und wenn diese über die aerobe Kapazität hinausgeht.

In diesem Fall steigt der Laktatspiegel im Blut deutlich an (man spricht von einer anaeroben oder "Laktatschwelle"), was die pH-Regulation des Körpers im Sinne einer metabolischen Azidose belastet. (Man kann über den Blut-pH abschätzen, ob ein Sportler wirklich bis zur Belastungsgrenze gegangen ist - der arterielle pH kann dann bis auf ~7,0 sinken). Zwar wird Laktat z.B. von Leber, Niere und Herzmuskel weiterverwertet, aber wenn das Angebot größer wird als die Nachfrage, nimmt der Laktatwert im Blut deutlich über den Ruhewert (~1 mM/l) zu (bis ~10 mM/l).

Die Belastbarkeit der Muskulatur für längere Arbeit wird durch die Dauerleistungsgrenze charakterisiert:

     Bleibt man unterhalb der Dauerleistungsgrenze, kann die Leistung lange und ohne Ermüdungsanstieg der Herzfrequenz - auf einem steady state - fortgeführt werden.
 
     Wird die Dauerleistungsgrenze überschritten, ist die Leistung ermüdend und die Pulsfrequenz nimmt stetig zu, ohne sich zu stabilisieren (Ermüdungsanstieg).

Die Herzfrequenz, die nichtermüdende von ermüdender Leistung trennt, liegt zwischen 100 und 130 bpm. Die Belastung (Ergometer) an der Dauerleistungsgrenze liegt z.B. bei gesunden jungen (untrainierten) Männern bei ~100 Watt (individuell unterschiedlich). Die Sauerstoffaufnahme beträgt hier höchstens 1,5 l/min (Ruhewert 0,25-0,3 l/min), die eingegangene Sauerstoffschuld (O2-Defizit) nicht über 4 l. Die
Dauerleistungsgrenze ist überschritten, wenn der Laktatspiegel über 2,2 mM / l Blutplasma liegt.

Reflexe
 
Die Prüfung von Reflexen ist ein wichtiges diagnostisches Werkzeug zur Testung der Rückenmarks- bzw. Hirnstammfunktion.
 

Abbildung: Auslösung des "Patellarsehnenreflexes"
Nach einer Vorlage bei aibolita.com

Dehnung von Muskelspindeln im m. quadriceps femoris (durch Dehnung der Patellarsehne mittels Reflexhammer) führt zur Auslösung von Aktionspotentialen über afferente Ia-Fasern (blau). Nach ("monosynaptischer") Aktivierung motorischer Vorderhornzellen desselben Muskels kontrahiert sich dieser, während Antagonisten - durch Einschaltung inhibitorischer Zwischenneurone - gehemmt werden


Von Eigenreflexen spricht man, wenn der Reflex den Muskel aktiviert, von dem aus er ausgelöst wurde. Die Prüfung solcher Reflexe kann ausgelöst werden durch

      mechanische Dehnung: Dehnreflex (myostatic reflex, stretch reflex, tendon jerk reflex), z.B. als Patellarsehnen- ( Abbildung), Achillessehnen-, Masseter- (jaw jerk), Brachioradialis-Reflex; irreführenderweise als "Sehnen"- oder T-Reflex - T nach tendon - bezeichnet, wenn durch Dehnung des Muskels über seine Sehne ausgelöst.

Tatsächlich durch Reizung von Sehnenrezeptoren wird der Golgi-Sehnenreflex (inverse stretch reflex, inverse myotatic reflex, tendon reflex, autogenic inhibition) ausgelöst. Er stoppt den durch Dehnung in Serie liegender Muskelspindeln reflektorisch erhöhten Muskeltonus und soll vor Überdehnung schützen.

      elektrische Reizung (H-Reflex ). Elektrische Reizung von Fasern in einem Nerven, der den zu prüfenden Muskel versorgt, führt zur Auslösung des spinalen Spindelreflexes. In diesem Fall wird - im Gegensatz zum T-Reflex - die Muskelspindel umgangen.

Bei geringer Reizstärke werden nur sensible (Ia-) Fasern erregt, die Motoneurone im Rückenmark aktiviert, und der Reflex führt nach ~30 ms zur Kontraktion (im EMG tritt eine H-Welle auf). Bei höherer Reizstärke kommt es zu direkter Erregung der motorischen Fasern, die Kontraktion erfolgt schon nach 5-10 ms (im EMG tritt eine M-Welle auf).
 
Geringe Stromstärken erregen bei der Auslösung des H-Reflexes nur afferente Fasern
   
Bei steigender Reizgröße wächst die M-Welle, gleichzeitig wird die H-Welle kleiner, da antidrom laufende Aktionspotentiale an den erregten motorischen Nervenfasern den orthodromen Reflexeffekt auslöschen.
 
Fremdreflexe haben ein komplexeres Verschaltungsmuster, Ausgangs- und Zielort sind verschieden (Beispiele: Lidschluss-, Bauchdecken-, Cremaster-, Analreflex; Babinskireflex). Auf der Ebene des Hirnstamms ausgelöste Reflexe (Pupillenlicht-, Lidschluss-, Orbicularis-oculi-, vestibulo-okulärer, Zungen-Kiefer-Reflex) sind überwiegend komplexe Fremdreflexe.
 
   Näheres zu Hirnstammreflexen s. dort
 

EEG (Elektroenzephalographie)
Mehr zum EEG s. dort
   
Welche Teile im Gehirn werden als erste aktiviert, wenn es (im Anschluss daran) zu einer motorischen Aktion kommt? Wie ist dieser Vorgang bewusst steuerbar? Hat man volle Kontrolle über seine Motorik, oder nur die Illusion einer solchen  Kontolle? Gibt es einen freien Willen?

Solche Fragen wurden u.a. durch Ableitung zerebraler Bereitschaftspotentiale untersucht (Libet-Versuch, s. unten). Diese treten bilateral früher als 0,2 Sekunden vor Bewegungsbeginn auf - umso früher und intensiver, je komplexer die geplante Bewegung ist. Inwieweit ein "freier Wille" der Handlungen besteht, ist einerseits eine Frage der Definition, andererseits eine Problematik, die über die Neurophysiologie hinausreicht und nach wie vor in Diskussion ist.


Abbildung: Bereitschaftspotential im EEG

Beim Libet-Experiment steigt das gemittelte Bereitschaftspotential an, bevor die Handlungsabsicht bewusst wird


Bereitschaftspotentiale treten immer über beiden Hemisphären auf
   
Bereitschaftspotentiale sind Ausdruck der neuronalen Vorbereitung, nicht einer Entladung von Pyramidenzellen im primären motorischen Kortex. Ihre ersten Anteile stammen aus subkortikalen Gebieten ("Wunsch" zu einer Bewegung - u.a. limbisches System), anschließend "übernimmt" der Assoziationskortex, der zusammen mit Basalganglien und Kleinhirn einen Bewegungsplan entwirft.

Menschen mit Läsionen im posterioren Parietalkortex können korrekt angeben, wann sie eine Bewegung begonnen haben, erinnern sich aber nicht, diese Bewegung "gewollt" zu haben. Vermutlich generiert dieser Hirnabschnitt ein prädiktives inneres Modell einer bevorstehenden Bewegung.

Bereitschaftspotentiale können von der Schädeloberfläche abgeleitet werden, sind aber sehr schwach und würden im Spontan-EEG
untergehen. Daher werden sie durch Mittelung mehrerer (durch den Zeitpunkt der motorischen Aktivität synchronisierter) EEG-Strecken errechnet (ähnlich wie evozierte Potentiale, nur retrograd). Man bezeichnet dieses Mittelungsverfahren als Averaging; es werden zahlreiche Einzelregistrierungen addiert, bis sich die nicht mit dem Bereitschaftspotential ursächlich verknüpften Zufalls-Ausschläge im EEG gegenseitig herausmitteln.

Dabei zeigt sich, dass bereits etwa eine Sekunde vor Beginn einer Handlung Änderungen im elektrischen Feld einer entsprechenden Hirnregion auftreten. Tatsächlich erfolgen kernspintomographisch erfassbare Änderungen der Gehirnaktivität noch wesentlich früher (einige Sekunden vor Bewusstwerden des "Entschlusses" zum Handeln), zuerst im Frontal- und Parietalhirn, anschließend in motorischen Hirnarealen (
s. dort).
 
Abbildung: Wundt'sche Uhr
Der Proband gibt an, bei welcher Position der Markierung der Impuls zur Bewegung bewusst geworden ist


Geht dem Bereitschaftspotential eine willkürliche Entscheidung voran?

Der Libet-Versuch sollte darauf eine Antwort geben: Der Proband sitzt vor einen Bildschirm, auf dem sich ein Lichtpunkt mit einer konstanten Geschwindigkeit von 360° in 2,5 sec im Kreis bewegt (sog. Wundt’sche Uhr, Abbildung). Die Person führt zu einem beliebigen Zeitpunkt eine Bewegung aus und gibt den Moment, in welchem er sich für die Bewegung entscheidet, durch Angabe des Winkels des Lichtpunktes an.

Es werden die Zeitpunkte des Beginns des Bereitschaftspotentials (aus EEG gemittelt,
Abbildung), des Bewusstwerdens einer Bewegungsabsicht, und des Beginns der Bewegung verglichen. Der Libet-Versuch suggeriert, dass (unter diesen experimentellen Bedingungen) die Bewegung bewusst erst "gewollt" wird, wenn das Gehirn bereits unbewusst die Intention zu dieser motorischen Aktion "vorbereitet" hat.

Neuere Untersuchungen zeigen, dass unbewusst vorbereitete Bewegungsintentionen willentlich gestoppt werden können, d.h. das prämotorische Bereitschaftspotential nicht notwendigerweise einen  "point of no return" bedeuten muss. Die Frage des "freien Willens" steht weiterhin zur Diskussion.


 
Schon John Locke (17. Jh.) zweifelte das Konzept des freien Willens an. Das Bereitschaftspotential wurde 1964 von Lüder Deecke und Hans Kornhuber beschrieben. Dass das Bereitschaftspotential vor der Bewusstwerdung einer Handlungsintention erfolgt, wurde von Benjamin Libet 1983 gezeigt (s. oben). Die Fähigkeit des Gehirns, eine im Gange befindliche Handlung noch zu "beeinspruchen", wurde 2007 von Patrick Haggard nachgewiesen, und 2010 wurde klar, dass das Bereitschaftspotential unabhängig davon auftritt, welche Entscheidung letztendlich getroffen wird.


Ereigniskorrelierte Potentiale (EP) sind aus dem EEG-Muster gemittelte Potentialverläufe, die mit einem Ereignis (motorisch oder sensorisch) ursächlich zusammenhängen. Zur Mittelung ist die oftmalige Wiederholung des Versuchs und genaue Synchronisierung der EEG-Strecken nach Maßgabe des Zeitpunkts, an dem das Ereignis auftritt, notwendig. Handelt es sich um einen Potentialverlauf, der einem motorischen Ereignis (einer Muskeltätigkeit) zuvorkommt, spricht man von einem prämotorischen Potential ( Abbildung oben: Libet-Versuch).
 
Reizung der Großhirnrinde
   
   
Abbildung: Transkranielle magnetische Stimulation des motorischen Kortex
Nach einer Vorlage in Hierholzer / Schmidt, Pathophysiologie des Menschen, VHC Verlagsgesellschaft 1991

Die Qualität der absteigenden motorischen Leitung kann überprüft werden, indem die Latenzzeit (in Millisekunden) bis zur Ankunft der Aktionspotentiale am Muskel, sowie Form und Amplitude der elektromyographischen Reaktion ermittelt werden


Transkranielle magnetische Stimulation (TMS) des motorischen Kortex / absteigende Leitung über Hirnstamm und Rückenmark: Efferente motorische Leitungsbahnen lassen sich überprüfen, indem der motorische Kortex gereizt und sowohl zeitliche Verzögerung bis zur Ankunft der Potentiale an den Muskeln der Peripherie, als auch die Gestalt der motorischen Signale ( Abbildung) ermittelt werden.

Kurze TMS-Pulse können mehrfach pro Sekunde erfolgen (Repetitive transcranial magnetic stimulation rTMS), was transiente Verhaltensänderungen bewirkt und sowohl diagnostisch als auch wissenschaftlich genützt wird.

Die Fasern einer motorischen Einheit werden von “ihrer” Vorderhornzelle jeweils synchron angeregt, und ihre gemeinsame Entladung führt zu ein-bis dreiphasigen Summen-Aktionspotentialen, die zur Untersuchung der Muskelfunktion mittels Oberflächenelektroden (von der Haut) oder eingestochenen, isolierten Drähten (aus dem Muskel) abgeleitet werden können.

Das Ergebnis nennt man Elektromyogramm:
 
EMG (Elektromyographie)
 
Aus einem Elektromyogramm (EMG) kann man z.B. in Sportphysiologie bzw. Bewegungswissenschaften die Aktivierung einzelner Muskeln bei Bewegungsabläufen ablesen. In der neurologischen Anwendung kann man aus dem EMG diagnostizieren, ob allenfalls eine (Schädigung von Muskelzellen) oder MyopathieNeuropathie (Schädigung von Nervenfasern) vorliegt.
 

Abbildung: Nichtinvasiver elektromyographischer Versuchsaufbau
Kombiniert nach Vorlagen bei medchrome.com und Shin et al, Ann Rehab Med 
2014; 38:127-31

Oberflächenelektroden (s: surface) sind über Muskeln (hier; Bizeps und Trizeps) an der Haut befestigt. Alle Elektroden liegen an differenten Positionen, daher sind die Ableitungen bipolar. Eingeblendet ist eine Originalregistrierung; Aktivierung des Muskels führt zu elektrischen Entladungen motorischer Einheiten


Mit zunehmender Kontraktionsstärke nimmt die Zahl der aktivierten Vorderhornzellen und ihre Entladungsfrequenz zu; es werden immer mehr motorische Einheiten rekrutiert. Bei intensiver Kontraktion lassen sich die Potentialverläufe einzelner motorischer Einheiten nicht mehr differenzieren, sie überlagern sich zu einem Interferenzmuster.

Je kleiner (begrenzter) das Ableitungsgebiet, desto "schärfer" kommt das Entladungsverhalten einzelner motorischer Einheiten zum Vorschein. Das funktioniert am besten mit invasiven Ableitungen, d.h. direkt aus dem betreffenden Muskel. Dann ist es möglich, nur mehr wenige motorische Einheiten zu "belauschen", und die Form der spezifischen Entladungscharakteristik der Einheiten (Motor Unit Action Potential Trains) wird erkennbar. Dabei
werden feine Metallelektroden (isolierte Drähte mit freier Spitze) direkt in das Muskelgewebe vorgeschoben (Blutungen sollen vermieden werden).

Die abgeleiteten Aktionspotentiale zeigen die Aktivität einer räumlich begrenzten Gruppe von Fasern, die zu einer oder nur wenigen motorischen Einheit(en) gehören.

  

Abbildung: Interferenzmuster (rechts oben), Einzelkomplexe (rechts unten)
Nach
De Luca CJ, Adam A, Wotiz R, Gilmore LD, Nawab SH. Decomposition of Surface EMG Signals. J Neurophysiol 2006; 96: 1646-57

Form der Einzelkomplexe der motorischen Einheiten durch Dekompositionsverfahren (Sensor-Arrays, mathematische Algorithmen) errechnet.
 
Die Dekomposition zeigt die Einzelkomponenten, aus denen das summierte EMG-Signal zusammengesetzt ist und ermöglicht eine klare Beurteilung nach Intervallen, Entladungsfrequenzen und Synchronisierungscharakteristika der einzelnen motorischen Einheiten


Wenn mehr als 3-4 motorische Einheiten gleichzeitig ableitungswirksam feuern, sind die Einzelkomplexe mit freiem Auge nicht mehr zu erkennen. Deren Form ist aber diagnostisch wichtig (myogene, neurogene Störung?).

Aus der Überlagerung der Impulse (Interferenzmuster) ist es mit Hilfe diverser meßtechnischer / mathematischer Verfahren dennoch möglich, die individuellen Entladungskomplexe der motorischen Einheiten herauszurechnen, auch aus (nichtinvasiv gewonnenen) Oberflächen-EMG-Ableitungen (Dekomposition,
Abbildung).
  

Abbildung: Motorische Einheiten
Nach einer Vorlage bei Brooks / Cole - Thomson Learning

Drei motorische Vorderhornzellen versorgen ihre motorischen Einheiten (farbcodiert; schematisch).
 
Die Aktivierungsschwelle motorischer Einheiten ist unterschiedlich, sie werden bei zunehmendem Kraftbedarf / wachsender Erregungsgröße im ZNS nacheinander "eingeschaltet"


    Elektromyographische Befunde: Bei mäßiger Kontraktion eines Muskels finden sich im EMG einzelne Entladungsmuster der motorischen Einheiten, bei maximaler Kontraktion durch Überlagerung mehrerer Aktivitäten - die nun von zahlreichen Einheiten und hochfrequent auftreten - ein Interferenzmuster.

      Bei einer myopathischen Störung, die durch Ausfall einzelner Muskelfasern innerhalb der motorischen Einheiten gekennzeichnet ist, zeigen sich kurze, kleine und polyphasische Einzelpotentiale (Entladungen der motorischen Einheiten) und ein niederamplitudiges, dichtes Interferenzmuster.

      Neuropathische Störungen hingegen sind bedingt durch Ausfall ganzer motorischen Vorderhornzellen und damit motorischen Einheiten. Die verbliebenen, funktionstüchtigen Einheiten hypertrophieren kompensatorisch; die Einzelpotentiale im EMG sind groß und verbreitert, das Interferenzmuster erscheint weniger überlagert (rarefiziert).
 

Abbildung: Elektromyogramme
Nach einer Vorlage in Kandel / Koester / Mack / Siegelbaum (eds), Principles of Neural Sciences, 6th ed. 2021 (McGraw Hill)

Links: Normalerweise zeigt das EMG eines inaktiven Muskels ("Ruhe") keine elektrische Aktivität. Aktivierung vereinzelter motorischer Einheiten ergibt eine leichte Kontraktion (man sieht drei triphasische Komplexe einer motorischen Einheit). Bei maximaler Kontraktion entsteht ein Interferenzmuster - die Summe zahlreicher Entladungen mehrerer motorischer Einheiten.
 
Mitte: Reduzierte Zahl aktivierbarer motorischer Vorderhornzellen (Neuron "A" ist atrophiert); "B" hat "verwaiste" Muskelfasern mit innerviert (bildet eine motorische "Rieseneinheit") und feuert auch gelegentlich im Ruhezustand (Faszikulationen). Denervierte Muskelfasern können auch Spontanentladungen zeigen (Fibrillation im EMG).
 
Rechts: Bei Myopathien verlieren einzelne Muskelfasern ihre Funktion (und bilden Spontanentladungen - Fibrillationen), die motorischen Einheiten enthalten weniger aktivierbare Fasern, ihre Entladungen sind klein und bestehen aus zahlreichen Teilen (polyphasisch), die Amplitude des Interferenzmusters ist reduziert


     Allgemeines zu elektrophysiologischen Ableitungen s. dort
 
     Zu Prinzipien der Elektrophysiologie s. dort

  

  
Zu den wichtigsten motorischen Störungssymptomen gehören:

     Muskuläre Hypotonie: Untersuchte Extremität 'liegt schwer in der Hand'; Gelenke überstreckbar; z.B. bei Polyneuritis, Hinterstrangschäden, Chorea

     Schlaffe Lähmung (Plegie , flaccid paralysis): Tonus herabgesetzt als Zeichen einer Schädigung der Motoneuronen (zentral oder peripher bedingt)

     Spastische Lähmung: Tonus erhöht ('federnder' Widerstand, bei zunehmender Dehnung steigend, mit plötzlichem Nachlassen - 'Taschenmesserphänomen') als Zeichen einer zentralen Lähmung (Pyramidenbahnzeichen) mit gesteigerten Eigenreflexmustern

     Rigor : 'wächserner' Widerstand, in allen Gelenken Strecker wie Beuger betreffend, im Extremfall als 'Zahnradphänomen' (wiederholtes ruckartiges 'Einrasten') – insbesondere bei Mb. Parkinson
 

 
     Muskeltonus ist der unwillkürliche Widerstand, den entspannte Muskeln einem Hin- und Herbewegen in den Gelenken entgegensetzen. Getestet wird er an Nacken- und Halsmuskeln durch Hochheben des Kopfes oder den 'Kopffalltest', an den Armen durch Beugen und Strecken im Schulter- und Ellbogengelenk, an den Beinen durch Beugen und Strecken im Hüft- und Kniegelenk
 
     Die Dauerleistungsgrenze äußert sich in der Belastbarkeit der Muskulatur für längere Arbeit. Unterhalb der Dauerleistungsgrenze kann die Leistung ohne Ermüdungsanstieg der Herzfrequenz über längere Zeit erbracht werden (Höchstwert 100-130 bpm); darüber - ab einem Laktatspiegel von 2,2 mM/l - nimmt die Pulsfrequenz stetig zu (Ermüdungsanstieg)
 
     Eigenreflexe (Auslösung und Reaktion im selben Muskel - z.B. Masseterreflex) prüft man durch mechanische Dehnung (T-Reflex) oder elektrische Reizung (H-Reflex). Geringe Stromstärken erregen bei letzteren nur afferente Fasern. Bei Fremdreflexen (z.B. Lidschlussreflex) sind Ausgangs- und Zielorgan nicht identisch
 
     Ereigniskorrelierte Potentiale (EP) sind aus dem EEG-Muster gemittelte Potentialverläufe, die mit einem Ereignis (motorisch oder sensorisch) ursächlich zusammenhängen. Bereitschaftspotentiale sind Ausdruck teils subkortikaler motorischer Vorbereitung (nicht der Entladung von Pyramidenzellen im primären motorischen Kortex) und treten etwa eine Sekunde vor Bewegungsbeginn bilateral (über beiden Hemisphären) auf - umso früher und intensiver, je komplexer die geplante Bewegung ist
 
     Transkranielle magnetische Stimulation (TMS) des motorischen Kortex - eventuell repetitiv (rTMS) - dient zur Testung der motorischen Leitung (Kriterien: Zeit bis zur Ankunft der Potentiale am Muskel, Gestalt der motorischen Signale)
 
     Elektromyographie (EMG) leitet elektrische Signale während Muskelkontraktionen ab. Die Zahl aktivierter motorischer Einheiten - und ihre Entladungsfrequenz - steigt mit zunehmender Anregung aus dem ZNS. Die abgeleiteten Aktionspotentiale zeigen die Aktivität einer räumlich begrenzten Gruppe von Fasern, die zu 1-3 motorischen Einheiten gehören. Bei stärkerer Aktivierung sind keine Einzelkomplexe mehr erkennbar (Interferenzmuster)
 

 




 Die Informationen in dieser Website basieren auf verschiedenen Quellen: Lehrbüchern, Reviews, Originalarbeiten u.a. Sie sollen zur Auseinandersetzung mit physiologischen Fragen, Problemen und Erkenntnissen anregen. Soferne Referenzbereiche angegeben sind, dienen diese zur Orientierung; die Grenzen sind aus biologischen, messmethodischen und statistischen Gründen nicht absolut. Wissenschaft fragt, vermutet und interpretiert; sie ist offen, dynamisch und evolutiv. Sie strebt nach Erkenntnis, erhebt aber nicht den Anspruch, im Besitz der "Wahrheit" zu sein.