Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
 

   
Körperhaltung und Motorik
 
  Kontrolle der Haltung und die Rolle des Hirnstamms
© H. Hinghofer-Szalkay

Bell-Phänomen: Charles Bell
Konjunktiva: jungere = verbinden, tunica conjunctiva = Bindehaut
Kornealreflex: cornu = Horn > (membrana) cornea = Hornhaut, re = zurück, flectere = biegen beugen
Narkose: ναρκάειν = betäuben - νάρκη =
Schläfrigkeit, Lähmung
photischer Niesreflex: φῶς
= Licht (auch Photoptarmose: πταρμός = Niesen)




Der Hirnstamm (Brücke und Mittelhirn) hilft bei der Erhaltung des Gleichgewichts. Er empfängt Information von Otolithen- und Bogengangsrezeptoren im Innenohr sowie von der Tiefensensibilität im Körper. In enger Kooperation mit dem Kleinhirn steuert der Hirnstamm Augenmuskel- und Extrapyramidalmotorik. Dabei verrechnet er absteigende Impulse von Basalganglien und motorischen Rindengebieten.

Eigene Kerngebiete (nucleus ruber, formatio reticularis) haben - wie die Vestibulariskerne - Zugang zu motorischen Vorderhornzellen bzw. diesen vorgeschalteten Interneuronen. Statomotorische Reflexe stabilisieren die Körperhaltung (Haltereflexe), die Justierung von Kopf und Körper erfolgt über Stellreflexe.

Zahlreiche weitere, zum Teil lebenswichtige Reflexe haben ihr Zentrum im Hirnstamm:
 
Kornealreflex
und Konjunktivalreflex (Lidschluss, Tränensekretion, Kontraktion des Orbikularmuskels, Zurückweichen des Kopfes)
 
Niesreflex (Einatmung, Verschluss der Stimmritze, Anspannung der Bauchdeckenmuskulatur, plötzliches Öffnen der Glottis)
 
Hustenreflex (Reinigung der Atemwege)
 
Kauen ("Kaumustergenerator"), Salivationsreflex, Schluckmotorik (beteiligte Hirnnerven: V, VII, IX, X, XI, XII)
 
Brechreflex, Würgreflex (Pharyngealreflex).

Weiters beinhaltet der Hirnstamm Zentren für die Steuerung von Atmung und Kreislauf und beteiligt sich an der Schlafsteuerung.
 

Kerngebiete im Hirnstamm Halte- und Stellreflexe Weitere Hirnstammreflexe  Kontrolle der Haltung über das gesamte ZNS

Praktische Aspekte         Core messages
  
Der Hirnstamm ist die Verlängerung des Rückenmarks, übernimmt aber komplexere Funktionen als dieses. Sein zentrales Kerngebiet ist die formatio reticularis, analog dem Vorder-Seitenhorn des Rückenmarks. Beide erfüllen sensori-motorische Aufgaben (motorische und autonome Muster, Reflexe, einfache Verhaltensweisen), aber die formatio reticularis ist mit weiter gehenden Aufgaben betraut. So steuert der Hirnstamm Gleichgewicht und Körperhaltung, Atmung und Kreislauffunktionen, Kau- und Begleitmotorik (orofacial movements), Leck-, Saug- und Schluckbewegungen, Essverhalten, Alertheit und Aufmerksamkeit (arousal), spontane (emotionale) Mimik (facial pattern generators), sowie Schlaf-Wach-Zyklen. Pattern generators nennt man Neuronengruppen, die stereotype Bewegungsfolgen erzeugen und mehr oder weniger spontan aktiv sein können.

Während das Rückenmark mit den ihm zugeordneten Körpergebieten mit Spinalnerven kommuniziert, sind es für den Hirnstamm Hirnnerven, die diese Aufgabe übernehmen - mit wesentlich komplexeren und spezialisierteren Funktionen. Die Mehrzahl der Hirnnerven decken Gebiete im Kopf ab, während der IX. und vor allem der X. (N. vagus) auch Hals, Thorax und große Bereiche des Abdomens sensorisch, vegetativ und motorisch versorgt.
 
Abbildung: Stellreflex bei einer Katze
Nach Etienne-Jules Marey


Der freie Fall beginnt in Rückenlage. Das Vestibularsystem und die Propriozeption triggern Bewegungsmuster, die Kopf, Rumpf und Extremitäten der Schwerkraft entsprechend ausrichten (Stellreflexe) und eine Landung auf den Pfoten ermöglichen. Zuerst legt das Tier die Vorderbeine eng an den Körper (raschere Drehung, wie bei einer Pirouette), gleichzeitig streckt sie die Hinterbeine (langsame Drehung). Dieses Muster wechselt je nach Position des Körpers. Auch der Schwanz hilft bei der Justierung der Körperposition. Für das richtige Timing beim Auftreffen auf den Untergrund ist auch ein intaktes visuelles System erforderlich


Für die Kontrolle von Körperhaltung und die Erhaltung des Gleichgewichts spielt der Hirnstamm eine zentrale Rolle ( Abbildung). Wie intensiv muss dabei das ZNS in die Steuerung einzelner Muskeln eingebunden sein? Können Aufgaben an untergeordnete Zentren delegiert werden, während sich das Großhirn mit "strategischen" Fragen der Motorik beschäftigt?

Bewegungsabläufe und Muskeltonus werden zwar vom gesamten ZNS beeinflusst; was immer diese Einflüsse sind, sie müssen über motorische Vorderhornzellen (motorische Einheiten) in die Peripherie wirken. Ohne Aktivität dieser Zellen sind die Muskeln schlaff, sie können sich nicht selbst aktivieren - sie verfügen über keine Autonomie.

Motorische Vorderhornzellen steuern jeweils eine definierte Gruppe von Muskelfasern - zusammen mit diesen ergibt sich eine motorische Einheit. Die ihr zugeordneten Muskelfasern atrophieren, wenn sie von ihrer Vorderhornzelle über längere Zeit (Wochen bis Monate) nicht angeregt werden (Inaktivitätsatrophie); dies tritt auch bei Durchtrennung motorischer Nerven auf. Eine Behandlung mit funktioneller Elektrostimulation verhindert die Degeneration der Muskelfasern und ermöglicht es, die Zeit bis zur neuerlichen Innervation betroffener motorischer Endplatten durch vorwachsende motorische Axone zu überbrücken.


Der Hirnstamm steuert automatisierte motorische Programme
   
Die Unterstützung des Körpers in einem Schwerefeld (antigravity support) erfolgt durch entsprechende Verteilung des Muskeltonus (postural tone). An diesem sind die meisten der über 600 Muskeln beteiligt, die in ~140 Gelenken etwa 200 Knochen stützen und bewegen. Die Reaktionen der Halte- und Stützmuskulatur auf externe Störungen dieses Gleichgewichts erfolgen innerhalb einer Zehntelsekunde. Diese enorme Rechenleistung erfolgt weitgehend autonom, d.h. zur Aufrechterhaltung einer stabilen Körperhaltung ist kaum bewusste Kontrolle notwendig. Das Gleichgewicht wird im Wesentlichen durch posturale Koordination in Rückenmark und Hirnstamm bewältigt, unterstützt durch das Kleinhirn.
 

Nucleus ruber Formatio reticularis Vestibulariskerne


Abbildung: Ebenen der motorischen Kontrolle
Nach Scott SH, Optimal feedback control and the neural basis of volitional motor control. Nature Rev Neurosci 2004; 5, 532-46

Motorische Vorderhornzellen in Rückenmark und Hirnstamm sind die gemeinsame Endstrecke aller motorischen Signale.
 
Das Rückenmark (spinal cord) kann komplexe Reflexe und lokomotorische Muster generieren.
 
Formatio reticularis und Vestibulariskerne im Hirnstamm tragen zur Kontrolle der Haltung und Bewegungen bei (Berücksichtigung von Innenohrimpulsen) und beeinflussen Geschwindigkeit und Qualität der Lokomotion.
 
Nucleus ruber, Basalganglien und Kleinhirn arbeiten dem motorischen Cortex zu, generieren komplexe Muster und korrigieren Abweichungen von Sollwerten.
 
Die Großhirnrinde verfügt über ein breites, anpassungsfähiges Repertoire. Information aus der somatosensorischen (S1) und visuellen Rinde (V1) wird in die Verhaltensplanung des motorischen Cortex (M1) integriert.

    PF, Präfrontalrinde    dPM, dorsaler prämotorischer Cortex    SMA, supplementärmotorisches Areal der Großhirnrinde

Als Hirnstamm bezeichnet man (in der Physiologie) den zwischen Rückenmark und Zwischenhirn gelegenen Gehirnabschnitt. Er besteht aus Mittelhirn (mesencephalon), Brücke (pons) und verlängertem Mark (medulla oblongata); ihm ist dorsal das Kleinhirn (cerebellum) aufgelagert.

Fasern zu motorischen Vorderhornzellen bzw. zu ihnen vorgeschalteten Interneuronen entsenden folgende Hirnstammkerne:

        Der nucleus ruber (red nucleus) des Mittelhirns erhält viele Zuflüsse von Großhirn, Basalganglien und Kleinhirn, und entsendet den tractus rubrospinalis zu motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark. Gleichzeitig sendet er Impulse über den Olivenkern zum nucleus dentatus des Kleinhirns. Insgesamt wird so motorisch relevante neuronale Information in Wechselwirkung der genannten Kerngebiete abgeglichen und präzisiert.
  

Abbildung: Hirnstammkerne und ihre Verbindungen
Nach einer Vorlage bei lookfordiagnosis.com

Der fasciculus longitudinalis medialis verbindet die Kerne der Okulomotorik (äußeren Augenmuskulatur) mit den Vestibulariskernen (Gleichgewichtssinn)

        Die formatio reticularis (reticular formation) stellt neben den Basalganglien und dem Kleinhirn eine zentrale subkortikale Struktur der motorischen Kontrolle dar (Stabilisierung der Körperhaltung und Fortbewegung.). Sie besteht aus zahlreichen Kernen im Bereich des Hirnstamms (Mittelhirn bis verlängertes Mark) und beeinflusst die Aktivität des γ-motorischen Systems und damit des Muskeltonus.

Die formatio reticularis übernimmt zahlreiche spezielle Aufgaben
:
  Vermittlung akustischer und visueller Signale an das Kleinhirn
  Atmung (Atemzentrum)
  Herz- und Gefäßfunktionen (Kreislaufzentrum)
  Spezifische Hirnstammreflexe wie Husten, Niesen, Erbrechen u.a.
  Management der Aufmerksamkeit, Aktivierung / Weckfunktion
  Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus (welche sensorischen Signale wwrden an das Großhirn weitergeleitet?)
  Modulierung der Schmerzleitung

Die retikuläre Formation erhält zahlreiche Zuflüsse von aufsteigenden Fasern. Afferenzen stammen von sensorischen und motorischen Teilen der Großhirnrinde, aus Thalamus und Hypothalamus; Efferenzen projizieren auf Großhirnrinde, limbisches System, Thalamus, Hypothalamus und Rückenmark.


Während ein Teil der ventralen medulla oblongata motorisch wirkt, hat der Großteil der formatio reticularis (hemmenddorsale medulla oblongata bis Mittelhirn) bahnende Funktion und wird von absteigenden (Großhirn, Kleinhirn), aufsteigenden (sensorischen) und vegetativen Fasersystemen stimuliert.

Die zum Rückenmark absteigenden Fasern bilden den tractus reticulospinalis. Dessen medialer (pontiner) Anteil regt - ähnlich wie der tractus vestibulospinalis - Extensoren an (und hemmt Flexoren), der laterale (medulläre) Anteil stimuliert Flexoren (und hemmt Extensoren).
 
Die motorischen Funktionen der formatio reticularis beinhalten vor allem Bereiche mit starker vegetativer Beteiligung, z.B. am Kältezittern, um die Körpertemperatur zu steigern.


Die formatio reticularis
beeinflusst ganz wesentlich Aufmerksamkeit und Bewusstseinslage - es aktiviert das Großhirn, z.T. über den Thalamus (Weckeffekt, arousal). Es wird daher als “aktivierendes aszendierendes retikuläres System” ((A)ARS) bezeichnet. Ohne ARS-Wirkung entsteht tiefe Bewusstlosigkeit, wie in der Narkose. Narkotisierte Patienten können die während der Operation auftretenden Reize nicht bewusst verarbeiten. Die spezifischen Kortex-Gebiete erhalten allerdings auch während der Narkose Afferenzen über den Thalamus, die Ausbildung von Engrammen kann auch in diesem Zustand nicht ganz ausgeschlossen werden.

        Die Vestibulariskerne (vestibular nuclei) werden vom Gleichgewichtssinn versorgt und stehen mit dem Urkleinhirn in enger Verbindung. Ihre zum Rückenmark absteigenden Fasern bilden den tractus vestibulospinalis ( Abbildung). Dessen lateraler Teil vermittelt vor allem eine Anregung der Streckmuskeln der Beine, was die Aufrechterhaltung der Körperhaltung gegen die Schwerkraftwirkung unterstützt.
 
Halte- und Stellreflexe
  
Der Hirnstamm koordiniert motorische Reflexe im Rahmen der Erhaltung des Gleichgewichts. Er projiziert mittels die tractus tecto-, reticulo-, vestibulospinalis - das sogenannte ventromediale System - auf das Rückenmark und kontrolliert so Körperhaltung und Fortbewegung. Für diese weitgehend unbewusst ablaufenden, automatisierten Abläufe sind Informationen aus mehreren Sinnesorganen, die dem Hirnstamm direkt zufließen - vor allem Gleichgewichtssinn, Gesichtssinn, Gehör - von entscheidender Bedeutung.
 
     Das Reflexpaket des Rückenmarks kann die aufrechte Körperhaltung stabilisieren, soferne keine Änderung der Situation auftritt; zur Erhaltung der Balance bei externen Störungen (Bewegung des Untergrundes, Stoß gegen den Körper) oder bei Kopfdrehung bedarf es supraspinaler Kontrolle. Dabei spielen Hirnstamm und Kleinhirn (Vestibulo- und Spinozerebellum) eine führende Rolle, sie beziehen schnelle (formatio reticularis, nuclei vestibulares) und sehr schnelle Afferenzen (Kleinhirn) aus Somatosensorik und Gleichgewichtsorgan. Das Kleinhirn dosiert (begrenzt) dabei die motorischen Impulse zur Erhaltung der Körperstabilität und speichert entsprechende motorische Erfahrungen.

Efferente Projektionen zu motorischen Vorderhornzellen erfolgen über den tractus reticulospinalis und vestibulospinalis. Läsionen im Bereich des
tractus reticulospinalis und vestibulospinalis bewirken Ataxie und instabile Körperhaltung. Störungen im Bereich der Pyramidenbahn und des tractus rubrospinalis wirken sich hingegen kaum auf die posturale Kontrolle aus.

Weitere Stabilität verleiht der Beitrag der Basalganglien, welche bei unerwarteten externen Störungen des Gleichgewichts die erforderliche Korrektur der Tonusverteilung unterstützen. An der Konfiguration des basalen posturalen Tonusmusters beteiligen sie sich nicht.

Die Großhirnrinde (supplementärmotorischer, temporoparietaler, sensorimotorischer, insulärer, limbischer Kortex u.a.) ist in der Lage, bei willkürmotorischen Akten unweigerlich auftretende Störeffekte auf Körperhaltung und Gleichgewicht durch kompensierende Aktivierungsmuster "aufzufangen" - schon bevor die Willkürhaltung sich auf die Körperbalance auswirken kann (Vorwärtskopplung).
 
 
Abbildung: Verschaltungen der motorischen Kontrolle
Nach einer Vorlage in H. Hinghofer-Szalkay: Praktische Physiologie, 3. Aufl. Blackwell Berlin 1994

Stark vereinfachtes Übersichtsschema. Man sieht die teilweise rückläufigen Verknüpfungen im Bereich der Basalganglien (oben), die Systeme zur motorischen Kontrolle im Bereich von Hirnstamm und Kleinhirn (Mitte) und die Organisation von Afferenzen, Efferenzen und Reflexen im Bereich des Rückenmarks sowie die Anbindung des Bewegungsapparates (unten)


      Der tractus vestibulospinalis hält einerseits den Kopf während der Fortbewegung balanciert. Die nuclei vestibulares empfangen über den VIII. Hirnnerven aus dem Innenohr entsprechende Information über die Kopfposition (vergleichbar einem Kreiselkompass). Ein anderer Teil fördert den Extensortonus vor allem der Beine, was die aufrechte Körperhaltung unterstützt.

      Der tractus tectospinalis wurzelt in den colliculi superiores der Vierhügelplatte, die ihre Impulse einerseits aus der Netzhaut bezieht, andererseits aus der Sehrinde, sowie Informationen über Somatosensorik und Gehör. Damit entwerfen die oberen Vierhügel ein komplexes Bild der Umwelt, was ihnen ermöglicht, präzise zielgerichtete Bewegungen vor allem von Hals- und Schultermuskeln zu generieren.

Der Hirnstamm stellt motorische Reaktionsmuster her, die man als Halte- und Stellreflexe bezeichnet (Halten einer korrekten Position - statisch, z.B. zur Stabilisation im Stehen; Einstellen einer erwünschten Position - dynamisch, z.B. Korrekturbewegungen beim Stolpern):

  Halte- (Haltungs-, Steh-) und Stellreflexe (placing reflexes, righting reflexes) werden vom Gleichgewichtssinn im Innenohr (Vestibularapparat), der Tiefensensibilität im Halsbereich (Muskelspindeln der Nackenmuskulatur), aber auch visuellen (Photorezeptoren der Netzhaut) und Hautreizen (Berührungsrezeptoren) ausgelöst. Ihre Aufgabe ist das Einstellen und Erhalten der Orientierung von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen in einem Oben-Unten-Bezug, d.h. bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Schwerefeld der Erde. Sie ermöglichen eine automatische Justierung des Kopfes und des Körpers.

Halte- und Stellreflexe stehen, ähnlich den Eigenfähigkeiten des Rückenmarks, unter dem Einfluss höherer Zentren und treten normalerweise im Rahmen übergeordneter Muster auf. Sie ermöglichen z.B. einer vom Ast gefallenen Katze, Kopf und Körper noch während des Sturzes elegant auszurichten und sicher auf den Pfoten zu landen.

 
      Einerseits werden
diese Reflexe vom Gleichgewichtsorgan ausgelöst, z.B. bewirkt Schiefstellung des Kopfes eine automatische Korrektur durch die Halsmuskeln; anschließend folgt der Rumpf nach.
 
      Andererseits bewirkt asymmetrische Reizung von Muskelspindeln im Halsbereich entsprechende Nachstellungen in der Somatomotorik.

     Der tractus reticulospinalis entspringt in der formatio reticularis der Pons und der Medulla oblongata. Der pontine tractus reticulospinalis fördert Haltereflexe, welche den Körper im Schwerkraftfeld stabilisieren - im Wesentlichen über Anregung der Extensoren der Beine. Der medulläre tractus reticulospinalis hat einen gegenteiligen Effekt: Er verringert die reflektorische Anregung der Streckmuskeln.

      Stellreflexe (statomotorische, statokinetische Reflexe) werden durch äußere Störungen bzw. Bewegungen getriggert, sie stellen die normale Körperstellung wieder her und erhalten das Gleichgewicht. Rezeptoren im Gleichgewichtsorgan und den Muskelspindeln sowie in der Netzhaut liegen am Beginn der betreffenden Reflexbögen.

Diese Reflexe werden auf Hirnstammebene verwaltet und greifen auch auf die motorische Steuerung im Rückenmark über. Sie werden in die übergeordneten motorischen Steuer- und Regelprogramme integriert; nur bei Unterbrechung der Verbindungen zwischen Gehirn und Rückenmark treten sie - in stereotyper Form - in den Vordergrund.

      Über vestibulookuläre Reflexe - sie steuern die äußere Augenmuskulatur - s. dort
 
Neuropathologie: Ausfall der übergeordneten Kontrolle des Endhirns führt zu monoton-karikaturhaften Halte- und Stellreflexen, z.B. Streckung des Armes und Überkreuzung des Beines auf der Seite, zu welcher der Kopf des Patienten gedreht wird.
 
Weitere Hirnstammreflexe
 

Im Hirnstamm befinden sich zahlreiche - großteils lebenswichtige - Reflexzentren (der Aufbau des Hirnstamms veränderte sich im Lauf der Evolution nur geringgradig):
 

Lidschluss Niesen Husten Kauen Salivation Schlucken Erbrechen Würgen
 

Abbildung: Leistungen von Hirnstammsegmenten
Nach einer Vorlage bei pixelatedbrain.com


      Okulomotorik - s. dort (N. oculomotorius, trochlearis, abducens - III, IV, VI) ( Abbildung)

      Über den Stapediusreflex s. dort

      Reflexzentren für die Steuerung von Herz und Kreislauf, z.B. der Barorezeptorreflex ( Kreislaufzentrum)
 

      Steuerung von Respiration ( Atemzentrum) und Säure-Basen-Haushalt zur Stabilisierung der Atemgaswerte und des pH-Wertes
 

      Reflexe, die sich auf das Verdauungssystem beziehen s. dort
 
      Der Hirnstamm beteiligt sich auch an der Schlafsteuerung; reziprok wirkende Neuronen regen unterschiedliche Schlafstadien an (REM = rapid eye movements, non-REM-Schlaf) an.

  
   Lidschlussreflex (Kornealreflex , Konjunktivalreflex ): Dieser Reflex wirkt konsensuell (auf beide Augen) und schließt eine Hebung der Augäpfel ein (Bell-Phänomen, palpebral oculogyric reflex). Berührung der Hornhaut oder dessen unmittelbare Umgebung (Afferenz: N. ophthalmicus, ein Ast des N. trigeminus), starker Lichtreiz (Afferenz: Sehnerv) oder allgemein Schreckreize (z.B. lauter Knall) lösen über die formatio reticularis innerhalb von ~0,25 s Kontraktion des m.orbicularis oculi (Lidschluss - über Äste des N. facialis), weiters Tränensekretion und Zurückweichen des Kopfes aus. Dieser auch Orbicularis-oculi- oder Blinkreflex genannte Vorgang schützt vor Fremdkörpern, Austrocknung oder Schädigung des Augapfels. In die Reflexbahn integriert sind (je nach Auslöser und Reflexstärke) Strukturen wie die oberen Vierhügel, der nucleus ruber, die formatio reticularis, schließlich der Fazialiskern und evt. weitere motorische Neuronengruppen.

      
  Über Lidschlussreflex, Konditionierung und Kleinhirn s. dort
   
      Niesreflex: Reize in der Nasenschleimhaut führen zu tiefer Einatmung, Verschluss der Stimmritze, Anspannung der Bauchdeckenmuskulatur und plötzlichem Öffnen der Glottis mit explosivem Entweichen der Luft (Niesen). Bei bis ztu 35% der Menschen kann  Niesen durch rasche Erhöhung der Lichtintensität (z.B. an die Sonne treten) ausgelöst werden, man spricht dann von einem photischen   Niesreflex (auch Photoptarmose genannt - Ursache unklar, möglicherweise spielt eine Nähe des N. II zum N. V - der u.a. die Nasenschleimhaut innerviert - eine Rolle)
   
      Hustreflex: Durch Schleimhautreize im Schlund-, Kehlkopf- und Luftwegsbereich, Ablauf ähnlich wie beim Niesreflex, aber ohne vorherige tiefe Einatmung

Mehr über Husten und Niesen s. dort
   
      Der Hirnstamm enthält ein motorisches Zentrum, das rhythmische Bewegungen der Kaumuskulatur koordiniert ("Kaumustergenerator",  Abbildung) und dabei einerseits sensorische Rückmeldungen aus dem Mund-, Nasen- und Rachenbereich berücksichtigt, andererseits unter der Kontrolle höherer Zentren - vor allem des Frontal- und Temporalhirns steht.
 
      Der Salivations- (Speichelfluss-) Reflex erhöht die basale Speichelsekretion von ~0,3 ml/min (unter 0,1 ml/min: Hyposalivation) durch entsprechende psychische oder sensorische Reize auf ein Mehrfaches dieses Wertes (>0,7 ml/min, meist mehrere ml/min).
 
      Der Schluckreflex wird durch Reizung von Mechanorezeptoren in der Schleimhaut (Zungengrund, Gaumen, Rachenhinterwand) getriggert. Afferente Fasern laufen im N. glossopharyngeus (IX) und vagus (X) zum “Schluckzentrum” im Hirnstamm ( Abbildung oben).

Die motorischen Efferenzen, welche den komplexen Schluckakt - mit einer pharyngealen, laryngealen und oesophagealen Phase - steuern, umfassen den V. (trigeminus), VII. (facialis), IX., X., XI. (accessorius) und XII. (hypoglossus) Hirnnerven.

 

Abbildung: Brechreflex
Nach einer Vorlage in Ritter / Flower / Henderson / Loke / MacEwan / Rang, Rang & Dale's Pharmacology, 9th ed. Elsevier 2020

Faktoren, die an der Auslösung des Brechreflexes beteiligt sind (links) und wahrscheinliche Angriffspunkte von Antiemetika (rechts).
   
Die medulla oblongata enthält drei involvierte Zentren: Chemorezeptoren-  Triggerzone, Brechzentrum und Vestibulariskerne. Letztere projizieren auf die Triggerzone (und diese auf das Brechzentrum).
   
Aus dem gastrointestinalen System können mehrere Reizmuster zur Aktivierung des Brechens führen, insbesondere aus dem Bereich enterochromaffiner Zellen.
   
  Antihistaminika wie Promethazin wirken über H1-Rezeptoren sedierend und möglicherweise im Vestibularapparat anticholinerg.
Hyoscin
wirkt anticholinerg (antimuscarinisch).
Cannabinoide wie Nabilon wirken wahrscheinlich im Gastrointestinaltrakt via CB1-Rezeptoren.
Dopaminantagonisten wirken über D2-Rezeptoren im ZNS (Phenothiazine), z.T. auch im Darm (Metoclopramid, Droperidol, Haloperidol).
Auch Serotoninantagonisten (Granisetron, Ondansetron, Palonosetron) entfalten ihre Wirkung sowohl peripher (GI-Trakt) als auch zentral (Chemorezeptoren- Triggerzone)


       Brechreflex ( Abbildung): Erbrechen (Emesis, Vomitus) ist ein Schutzmechanismus, der den Organismus vor potenziell giftigen Substanzen oder intensiven Dehnungsreizen befreien soll. Sein Ablauf wird von einer Region des Hirnstamms gesteuert, die unter dem Begriff "Brechzentrum" zusammengefasst wird. Wichtige Transmitter bei Auslösung und Ablauf des Brechreflexes sind Acetylcholin, Histamin, Serotonin, Dopamin, Substanz P, möglicherweise auch Enkephaline und Endocannabinoide.

Reizung enterochromaffiner Zellen im Darm, Dehnung oder Entzündung des Magens, Medikamente, hoher Hirndruck kommen als auslösende Reize in Betracht, aber auch die Anwesenheit von Giften im Kreislauf, die von Neuronen in der area postrema am Boden des IV. Ventrikels (nahe dem nucleus tractus solitarii) detektiert werden können - der sogenannten
Chemorezeptoren-Triggerzone (CTZ, chemoreceptive trigger zone, Abbildung). Auf diese Neurone projizieren auch Signale vom Gleichgewichtsorgan (z.B. können starke Drehbewegungen Übelkeit hervorrufen). Die area postrema unterliegt nicht der Blut-Hirn-Schranke, sondern hat fenestrierte Kapillaren, was Neuronen das "Eintauchen" in die Blutbahn und die Sondierung derer Inhalte erlaubt.

Axone aus der CTZ projizieren auf Neurone in der ventrolateralen medulla oblongata, das als Brechzentrum (vomiting center) bezeichnet wird. Dieses erhält weiters Projektionen aus dem Gastrointestinaltrakt (über Afferenzen des N. vagus) und aus dem Großhirn (unangenehmer Geruch, ekelhafter Anblick, emotionale Überforderung..). Das Brechzentrum koordiniert zusammen mit der Triggerzone den Ablauf des Erbrechens.

Aktivierung des Brechzentrums führt zu Blässe, Irregularitäten des Herzschlags, Schweißausbruch, massivem Speichelfluss (Pufferung sauren Mageninhalts), Pupillenerweiterung und
eventuell Übelkeit, schließlich Fixierung der Atmung, Bauchpresse, Pylorusverschluss und Erbrechen des Mageninhalts.

  Zum gastro-ösophagealen Reflux s. dort
 
      Würgreflex (Pharyngealreflex, gag reflex): Ausgelöst wird er durch Berührung rückwärtiger Rachenregionen (Zungengrund, weicher Gaumen) und bewirkt deren Kontraktion, mit dem Ziel, das Eindringen von Fremdkörpern in die Atemwege zu verhindern (Schutz vor Ersticken). Afferenzen laufen vor allem über den N. vagus (auch etwas über den N. glossopharyngeus), das Reflexzentrum liegt in formatio reticularis und nucleus ambiguus; letzterer entsendet Motoneurone zur rückwärtigen Rachenmuskulatur. Der Gaumen wird angehoben, die Rachenmuskulatur schnürt sich zusammen, der Zugang zu den Luftwegen wird verschlossen, das Irritans möglichst ausgeworfen.
  
Im Hirnstamm liegen die Kerne der meisten Hirnnerven (Mittelhirn: III bis V; Brücke: V bis VIII; verlängertes Mark: IX bis XII). Das Mittelhirn enthält weiters den nucleus ruber und die substantia nigra (roter und schwarzer Kern), die, beeinflusst von den Basalganglien und anderen motorischen Systemen, an der Steuerung von Muskeltonus und Bewegungsabläufen teilnehmen.
Störungen im Hirnstammbereich betreffen vitale Steuerungen und können lebensbedrohliche Folgen haben.
  
Kontrolle der Haltung über das gesamte ZNS
 
Die Kontrolle der Körperhaltung (posture) ist nicht auf den Hirnstamm beschränkt. Wesentliche Komponenten stammen aus dem Zwischen- und Endhirn. Wenn beispielsweise das Gleichgewicht von außen gestört wird, bedarf es außer somatosensorischer vor allem auch vestibulärer und visueller Sinnesinformation, um die Stabilität wiederherzustellen. In dieser Situation nimmt die Bedeutung somatosensorischer Information für die Erhaltung einer stabilen Körperhaltung ab, diejenige von Gleichgewichts- und optischen Hinweisen hingegen zu.

Die Balance und stabile Haltung des Körpers wird durch das Zusammenspiel aller Teile des ZNS ermöglicht (Rückenmarksebene: Eigen- und Fremdreflexe; Hirnstammebene: Gleichgewichtssinn; Großhirnebene: Integration aller Sinneshinweise;
Abbildung).
 

Abbildung: Kontrolle der Körperhaltung
Nach einer Vorlage in Kandel / Koester / Mack / Siegelbaum (eds), Principles of Neural Sciences, 6th ed. 2021 (McGraw Hill)

Das motorische System des Rückenmarks, das die an der Aufrechterhaltung von Körperhaltung und Gleichgewicht beteiligten Muskeln steuert, steht unter der direkten Kontrolle retikulospinaler und vestibulospinaler Efferenzen. Diese entspringen im unteren Hirnstamm (in der retikulären Formation sowie in den Vestibulariskernen).
 
Übergeordnete motorische Efferenzen stammen aus der Pons, den Basalganglien, dem Kleinhirn und primären, supplementär- und prämotorischen Arealen des Frontalhirns sowie Kortexarealen im Parietal-, Temporal- und Okzipitalhirn. Aufsteigende Rückkopplungen erfolgen über den Thalamus.
 
Auf diese Weise können somatosensorische, vestibuläre, visuelle, auch akustische Sinnesinformationen mit allfälligen intentionalen Impulsen (Absichten und Pläne) abgeglichen und die Stabilität der Körperhaltung auch bei äußeren Störungen aufrechterhalten werden


Auf diese Weise beteiligt sich der Kortex aller Gehirnteile an der Planung und Kontrolle von Haltung und Bewegung, indem sie Efferenzen zum Hirnstamm mit seinen eigentlichen posturalen Steuer- und Kontrollmechanismen senden. Der tegmentale pedunculopontine Kern (in der Nähe des oberen Kleinhirnstiels) - ein wichtiger Teil des aktivierenden retikulären Systems - spielt dabei eine Vermittlerrolle zwischen Basalganglien und Frontalhirn einerseits und der formatio reticularis der Brücke andererseits, und sendet Infomation über den Thalamus zum temporoparietalen Kortex (
Abbildung).
 

  
Chronisches bzw. schweres Erbrechen führt zu massivem Säureverlust und damit zu metabolischer Alkalose. Weiters bewirkt der Flüssigkeitsverlust Hypovolämie, was den Kreislauf belastet. Auch kann durch die K+-Verlagerung in den Intrazellulärraum Hypokaliämie auftreten.
 

 
     Der Hirnstamm (medulla oblongata, pons, mesencephalon) ermöglicht die Erhaltung des Gleichgewichts (posturale Koordination). Zum ventromedialen System (Körperhaltung, Fortbewegung) gehören die tractus tecto- (Sehen, Hören), reticulo- und vestibulospinalis. Der fasciculus longitudinalis medialis verbindet okulomotorische mit Vestibulariskernen; der nucleus ruber projiziert (tractus rubrospinalis) auf motorische Vorderhornzellen (Anregung von Flexoren) und (via nucl. olivaris) Kleinhirn
 
     Die formatio reticularis exzitatorisch auf Thalamus und Großhirnrinde (Aufmerksamkeit: ARS), limbisches System, Thalamus, Hypothalamus und Rückenmark. Über den tractus reticulospinalis regt sie Extensoren an - wie die Vestibulariskerne (Kopf- und Körperhaltung) - sowie Motorik mit starker vegetativer Beteiligung, z.B. Kältezittern
 
     Halte- (Steh-) und Stell- (statomotorische, statokinetische) Reflexe werden von verschiedenen Sinnesreizen ausgelöst: Gesehenes, Gehörtes (tr. tectospinalis), Gleichgewicht (Vestibularapparat), Berührungen (Haut) und Tiefensensibilität (Muskelspindeln) im Bereich von Hals und Nacken. Sie richten Kopf, Rumpf und Gliedmaßen entsprechend der Schwerkraft aus (Justierung von Kopf und des Körper, Aufrechterhaltung des Gleichgewichts). Haltereflexe stabilisieren den Körper (Extensoren), Stellreflexe werden durch äußere Störungen bzw. Bewegungen getriggert
 
     Der Hirnstamm verwaltet den Lidschluss- (Korneal-, Konjunktival-), Nies-, Husten-, Salivations- (Speichelfluss-), Schluck-, Brech-, Würg- (Pharyngeal-) reflex sowie Zentren zur Steuerung von Kreislauf, Atmung und Säure-Basen-Haushalt
 
     Im Hirnstamm liegen die Kerne der meisten Hirnnerven
 
     Der Hirnstamm beteiligt sich an der Schlafsteuerung, indem reziprok wirkende Neuronen unterschiedliche Schlafstadien an (REM = rapid eye movement, non-REM-Schlaf) anregen
 

 




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