Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
Kleinhirn und Motorik
© H. Hinghofer-Szalkay
Charcot-sche Trias: Jean-Martin Charcot
(A-) Diadochokinese: διαδέχομαι = nachfolgen, κινεῖν = bewegen
Lugaro-Zellen: Ernesto Lugaro
Purkinje-Zellen: Jan E. Purkinje
(A-) Synergie: σύν = zusammen, ἔργον = Wirken
Das
Kleinhirn ist für motorisches Lernen und die Feinsteuerung von
Muskeltonus und Bewegungen - inklusive rasch abwechselnder Aktivierung
von Agonisten und Antagonisten (Diadochokinese) - zuständig. Seine Nervenzellen haben
überwiegend hemmende Funktion, was das rasche Löschen von
Erregungswellen möglich macht.
Zwei Arten von Fasern übernehmen die Informationsleitung in das Kleinhirn: Kletterfasern aus dem unteren Olivenkern ziehen zu jeweils einer Purkinje-Zelle, bilden hier etwa 200 glutamaterge Synapsen und bewirken Entladungsserien; Moosfasern aus Großhirn, Hirnstamm und Rückenmark erregen zerebelläre Rinden- und Kernneurone.
Nach den Quellen der Information kann man das Kleinhirn einteilen in ein
--
Archicerebellum (Urkleinhirn, Vestibulocerebellum: Gleichgewichtssinn),
-- Paläocerebellum (Altkleinhirn, Spinocerebellum: Somatosensorik) und
-- Neocerebellum (Neukleinhirn, Pontocerebellum: neokortikale Bewegungsplanung).
Interneurone im Kleinhirn wirken teils de-, teils hyperpolarisierend:
-- Körnerzellen sind exzitatorisch (glutamaterg);
-- Inhibitorisch (GABAerg) sind Stern-, Korb- und Golgizellen sowie Purkinjezellen.
Purkinjezellen hemmen Neurone der Kleinhirnkerne,
die wiederum hemmend auf nucl. ruber und Thalamus (Feinabstimmung
willkürlicher Zielbewegungen), nucl. ruber und formatio reticularis
(Stand- und Gangmotorik) sowie okulomotorische Kerne (Blickmotorik,
Stand- und Gangstabilisierung) wirken.
|
Das
Kleinhirn (cerebellum) enthält den größten zahlenmäßigen Anteil von Neuronen im ZNS - seine Rinde (cortex cerebelli) enthält etwa 50 Milliarden Körnerzellen (die häufigste Neuronengruppe des ZNS). (Das ZNS hat beim Menschen insgesamt 86 Milliarden Neuronen, davon die Großhirnrinde 22 Milliarden.)
Das Kleinhirn wiegt
~140 Gramm (etwa 10% der gesamten Hirnmasse) und verfügt wegen der
intensiven Einfaltungen (folia cerebelli) seiner - im Vergleich zum
Großhirn (1,3-4,5 mm) dünneren Rinde (1 mm) über eine Oberfläche, die derjeniger des Großhirns nahekommt.
Eingänge zum Kleinhirn.
Woher weiß das Kleinhirn, was es zu tun hat?
Abbildung: Darstellung der Informationswege durch die Kleinhirnstiele
Nach einer Vorlage in Berkowitz AL, Clinical Neurology & Neuroanatomy: A Localization-Based Approach, 2nd ed. Mc Graw Hill 2022
Die
Kleinhirnstiele (pedunculi cerebellares) sind die Datenkanäle, über die
das Kleinhirn einerseits Information aus dem Körper (Propriozeption,
Kopfposition) und dem Gehirn (motorische Absichten) empfängt,
andererseits dem nucleus ruber und motorischen Thalamuskernen (und
damit dem motorischen Kortex) der Situation entsprechende
Rechenergebnisse zuleitet
Um Bewegungen sinnvoll zu
beeinflussen und koordinieren zu können, braucht das Kleinhirn zwei Arten von
Information ( Abbildung):
Was hat das Gehirn vor? (Soll-Information)
Und:
Wo und wie befindet sich der Körper im Raum? (Ist-Information)
Auf Grund dieser Informationen errechnet das Kleinhirn
motorische Korrekturvorschläge und sendet diese an motorische Instanzen des
Gehirns. Es hat keinen direkten Zugriff auf motorische
Vorderhornzellen, sondern "berät" zerebrale motorische Neuronengruppen bei
laufenden Steuerungsprogrammen, verfeinert und korrigiert deren
Aktivitäten und sorgt so für glatte, wohldosierte und rasche Bewegungsabläufe.
Diese Informationsflüsse erfolgen über drei paarige Strukturen, die Kleinhirnstiele (cerebellar peduncles) ( Abbildung):
Abbildung: Funktion der Kleinhirnstiele (schematisch)
Nach einer Vorlage in Berkowitz AL, Clinical Neurology & Neuroanatomy: A Localization-Based Approach, 2nd ed. Mc Graw Hill 2022
Links: Oberer Kleinhirnstiel.
Afferenz: 1, tr. spinocerebellaris ventralis
Efferenzen: 2, tr. cerebellothalamicus; 3: tr. cerebellorubralis; 4: tr. cerebelloreticularis
Mitte: Mittlerer Kleinhirnstiel.
Afferenz: tr. corticopontocerebellaris
Rechts: Unterer Kleinhirnstiel.
Afferenzen: 1, tr. vestibulocerebellaris; 2, tr. cuneocerebellaris; 3, tr. nucleocerebellaris; 4, tr. reticulocerebellaris; 5, tr. olivoverebellaris; 6, tr. arcuatocerebellaris; 7, tr. spinocerebellarus dorsalis
Efferenz: 8, tr. cerebellovestibularis
Der untere Kleinhirnstiel (pedunculus cerebellaris inferior) transportiert Impulse vom Gleichgewichtssinn (tractus vestibulocerebellares: Kopfstellung; hier laufen auch Fasern vom Kleinhirn zurück zum Vestibularsystem), vom Körper somatische Propriozeption (tractus spinocerebellares) - diese beiden ungekreuzt -, sowie bezüglich motorisches Lernen (tractus olivocerebellares, deren Fasern kreuzen die Seite).
Der mittlere Kleinhirnstiel (pedunculus cerebellaris medius) informiert das Kleinhirn über motorische Intentionen des Großhirns. Die Großhirnrinde sendet diese Information über den tractus corticopontinus
(der wesentlich mehr Nervenfasern enthält als der tractus
corticospinalis und aus fronto-, parieto-, temporo- und
occipitopontinen Teilen besteht). Die Fasern enden an Neuronen in der
Brücke. Hier nehmen pontozerebelläre Fasern
ihren Ursprung: Sie kreuzen die Seite und projizieren auf die
kontralaterale Kleinhirnhälfte (d.h. deren neozerebellären Anteile).
Der obere Kleinhirnstiel (pedunculus cerebellaris superior) vermittelt das Feedback an das Großhirn. Seine Fasern kreuzen wiederum die Seite (etwa zwischen Brücke und Mittelhirn); einige schalten am nucleus ruber um, andere projizieren direkt auf den Thalamus (nucl. ventralis lateralis). Dann geht es weiter zum Großhirn.
Einige spinozerebelläre Fasern nehmen den Weg zum Kleinhirn über den oberen Kleinhirnstiel.
Komponenten des Kleinhirns.
Man kann das Kleinhirn nach verschiedenen Aspekten einteilen:
Afferenzen / Phylogenese
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Efferenzen
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anatomisch
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Gleichgewichtssinn
"Vestibulocerebellum"
Urkleinhirn (Archicerebellum)
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Vestibulariskerne
nuclei fastigii
|
lobus flocculonodularis
|
Somatosensorik
"Spinocerebellum"
(Paläocerebellum)
|
nuclei fastigii
|
vermis
|
nucll. globosus / emboliformis
|
Intermediäre (paravermale) Zone /
mediale Kleinhirnhemisphären |
Großhirn
"Pontocerebellum"
(Neocerebellum)
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nucleus dentatus
|
laterale Kleinhirnhemisphären
|
Die Axone von etwa 15 Millionen
Purkinje-Zellen bilden den Ausgang der Kleinhirnrinde. Diese
projizieren auf Kleinhirnkerne -
nucleus fastigii, interpositus (globosus und emboliformis) sowie
dentatus - und diese auf ihre Ziele außerhalb des Kleinhirns
(Vestibulariskerne, nucleus ruber, Thalamus).
Das Kleinhirn projiziert auf die ipsilaterale Muskulatur (ohne Seitenkreuzung), nicht auf die kontralaterale - wie es der motorische Kortex des Großhirns
tut. Median gelegene Teile des Kleinhirns steuern Muskeln des
Körperstamms, lateral gelegene die Extremitäten (laterale
Kleinhirnteile sind auch in das motorische Lernen involviert). Dabei
werden Bewegungen in zahlreichen Gelenken gleichzeitig präzise
koordiniert (bei Beschädigung entsprechender Teile des Kleinhirns kommt
es zu Dekomposition solcher Bewegungsabläufe).
Vermutlich kann das Kleinhirn sensorische Auswirkungen geplanter motorischer Programme "vorhersagen" (forward model)
- unabhängig von peripherem (kinästhetischem, sensorischem) Feedback
(bei sehr raschen Bewegungen kämen diese Informationen ohnehin zu
spät). Abweichungen des tatsächlichen vom erwarteten Muster lösen
entsprechende Korrekturen nicht so sehr zerebellär, eher im
Parietalhirn aus, dem laufend aktuelle sensorische Information über die
Position von Extremitäten und Gegenständen zufließt.
Abbildung: Verbindungen der medialen Teile des Kleinhirns
Nach einer Vorlage in Carlson NR / Birkett MA, Physiology of Behavior, 12th ed. Pearson 2017
Grüne Linien: FlocconoduläresSystem
(lobus flocculonodularis, Vestibulocerebellum, Archicerebellum,
Urkleinhirn). Wechselseitige Projektionen mit dem Vestibularissystem
bewirken
eine Beteiligung an der reflektorischen Steuerung der Körperhaltung.
Blaue Linien: Die Vermis
erhält auditive und visuelle Information von der Vierhügelplatte sowie
somatische aus dem Rückenmark und sendet (via nuclei fastigii) Impulse
an Vestibulariskerne und formatio reticularis.
Beschädigung des lobus flocculonodularis oder des Vermis führt zu beeinträchtigter Kontrolle von Haltung und Körperbalance.
Rote
Linien: Laterale
zerebelläre Zone - neozerebellär / inermediär (paraflocculär).
Hierher projizieren absteigende Fasern aus dem Großhirn über
pontin-tegmentale retikuläre Kerne (motorische Intentionen) sowie
aufsteigende vom somatosensorischen System (aktuelle Position und
Bewegung der Extremitäten). Das Ergebnis des Vergleichs soll / ist
führt zu entsprechender Beeinflussung des nucleus dentatus in der Tiefe
des Kleinhirns. Dieser meldet das Ergebnis der Berechnungen via
Thalamus (nucl. ventrolateralis) an den primären motorischen Kortex und
präzisiert dessen Aktivität.
Die
intermediäre Zone projiziert via nuclei interpositi auf den nucleus
ruber - beeinflusst so die Motorik der Extremitäten - und auf den
Thamalus (ventrolaterale Kerne, die ihrerseits auf den motorischen
Kortex projizieren). Beschädigung der intermediären Zone geht mit Bewegungsdefiziten einher (Steifigkeit der Extremitäten).
Der laterale
(neozerebelläre) Kleinhirnteil steuert unabhängige, komplexe und rasch abwechselnde Bewegungsfolgen. Diese werden vom
Frontalhirn initiiert, vom Neocerebellum präzisiert und koordiniert. Beschädigung
der lateralen Zone führt zu Muskelschwäche und beeinträchtigter Abfolge
kombinierter - inklusive ballistischer (Wurf-) - Bewegungen
Die hohe Zahl zerebellärer Nervenzellen repräsentiert die vielen möglichen verschiedenen
Kombinationen neuronaler Inputs (Information aus verschiedenen Kanälen,
z.B. visuelle, taktile usw) - jede Zelle spricht dabei nur auf
bestimmte Reizkombinationen an. Der Afferenz /
Efferenz- Quotient ist im Kleinhirn sehr hoch: Die Zahl afferenter Nervenfasern (d.h. die in das Kleinhirn ziehen) ist ~40 mal größer
als die der efferenten (deren Impulse das Kleinhirn verlassen).
Die enorm hohe Informationsdichte, welche die große Zahl von
Körperzellen bereitstellt, wird von Purkinje-Zellen ausgelesen: Auf
diese erfolgt massive Konvergenz (>105
Körnerzellen auf eine Purkinjezelle), was das Erlernen komplexer
motorischer Muster mit einer enormen Zahl von Komponenten (Beispiele:
Rad fahren, ein Musikinstrument spielen...) ermöglicht.
Abbildung: Verbindungen des lateralen Kleinhirns
Nach einer Vorlage in Carlson NR / Birkett MA, Physiology of Behavior, 12th ed. Pearson 2017
Die laterale (neozerebelläre)
Zone wird vom Frontalhirn über beabsichtigte Bewegungen informiert und
hilft diese zu glätten und in den aktuellen motorischen Hintergrund
einzubetten. Dies erfolgt via nucleus dentatus / nucleus ruber oder
nucleus dentatus / Thalamus / motorischer Kortex.
Der laterale Kleinhirnrabschnitt steuert unabhängige, komplexe und rasch abwechselnde Bewegungsfolgen. Diese werden vom
Frontalhirn initiiert, vom Neocerebellum präzisiert und koordiniert.
Läsionen der lateralen (neozerebellären) Zone führen zu Muskelschwäche und beeinträchtigter Abfolge
kombinierter - inklusive ballistischer (Wurf-) - Bewegungen
Die Kleinhirnrinde ist dabei stereotyp aufgebaut: Ihre funktionellen
Einheiten bearbeiten Information aus verschiedenen Körperarealen in der
gleichen Art, haben einen unveränderten, sich ständig wiederholenden
Bauplan mit praktisch identer Funktionsweise. Diese inkludiert
motorische Vorausplanung (feed-forward control
- d.h. bevor sensorische Rückkopplungssignale aus der Peripherie
auftreten), benutzt innere "Karten" des Körpers und seiner Bewegungen,
optimiert den zeitlichen Einsatz motorischer Komponenten, speichert
Erfahrungen ab, nutzt sie bei Situationswiederholungen und tauscht sich
bei all dem intensiv mit motorischen Zentren im übrigen Gehirn aus.
Entwicklungsgeschichtlich am ältesten ist der mediale Kleinhirnteil, er kontrolliert das ventromediale System (grüne Linien in der Abbildung oben).
Die Aufgaben des Kleinhirns sind beinahe so komplex wie die des
Großhirns. Im Vordergrund stehen seine motorischen Fähigkeiten, insbesondere bereffend
die Okulomotorik (Stabilisierung des Blickes auf optische Ziele, betrifft vor allem das Vestibulozerebellum)
die Stützmotorik (Vestibulo- und Spinocerebellum: Kontrolle von Haltung und Bewegung)
die Zielmotorik, die im Großhirn konzipiert wird und vor allem vom Pontocerebellum detailliert ausgearbeitet wird.
Zusätzlich zu seinen "klassischen" sensomotorischen Aufgaben
beeinflusst das Kleinhirn die Steuerung und Bearbeitung von Gefühlen, Kognition, Zeitwahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Viszeromotorik. Über reziproke Bahnen korrespondiert es mit Hypothalamus und retikulärem System und hat damit Einfluss auf vegetative Steuerungsvorgänge. Auch mit dem limbischen System sowie Assoziationsgebieten der Großhirnrinde bestehen Verbindungen; das ermöglicht die Teilnahme an emotionalen und kognitiven Prozessen. Auch ist das Kleinhirn an Kurzzeitgedächtnis, Orientierung im Raum sowie Konditionierungsprozessen beteiligt.
Zytoarchitektonik
Das Kleinhirn vergleicht motorische Intentionen
(Großhirn) mit der aktuellen Situation der Muskeln und Gelenke und
korrigiert Abweichungen vom zerebralen Sollwertpaket. Es optimiert Haltung und Bewegung und ermöglicht motorisches Lernen. Es stützt
den Körper gegen äußere Störgrößen (Schwerkraft), indem es den Muskeltonus entsprechend verteilt
(beim Sitzen, Stehen, Gehen etc), und koordiniert einzelne Phasen von - insbesondere rasch wechselnden - Bewegungsabläufen (die
Fähigkeit, solche Bewegungsfolgen auszuführen, heißt
Diadochokinese ).
Das Kleinhirn hat exzitatorische (z.B. Körnerzellen: Glutamaterg) und inhibitorische
Neurone (z.B. Purkinje-, Golgi-, Korb-, Sternzellen: GABAerg), diese
stammen ontogenetisch aus verschiedenen proliferativen Zonen. Signale
aus der Mikroumgebung der Zellen (elektrische Aktivität, Zytokine)
bestimmen auch über den Transmitter, den die differenzierte Zelle
freisetzt - den Transmitter-Phänotyp.
Abbildung: Zytoarchitektonik des Kleinhirns
Nach einer Vorlage bei Richard S. Snell, Clinical Neuroanatomy, 7th Ed, Lippincott Williams & Wilkins 2010
Molekularschicht außen, darunter stratum ganglionare (Purkinjezellschicht), innen stratum granulosum (Körnerschicht).
Entlang der Längsachse der Kleinhirnwindung stehen Verzweigungen der Körnerzellen (granule cells).
Diese liegen im stratum granulosum und machen die Mehrzahl aller
Neurone im Gehirn aus. Sie werden aus pontinen Kernen via Moosfasern
angeregt und erreichen über Parallelfasern Dendriten von
Purkinje-Zellen, die sie glutamaterg anregen.
Jeweils 102 bis 3.105 Körnerzellen wirken synaptisch auf jeweils eine Purkinje-Zelle (Purkinje cell). Purkinje-Zellen sind die einzigen Efferenzen der
Kleinhirnrinde. Ihr Dendritenbaum steht flach wie eine Buchseite
rechtwinklig zur Längsachse der Kleinhirnwindung.
Auch die
Verzweigungen von Sternzellen (stellate cells) und Korbzellen (basket cells)
im stratum moleculare sind parallel zum Querschnitt der
Kleinhirnwindungen orientiert. Beide funktionieren GABAerg, hemmen also
Purkinje-Zellen, an deren Dendriten sie Synapsen ausbilden.
GABAerg (plus glycinerg) funktionieren auch Golgi-Zellen (Golgi cells). Dies sind die häufigsten inhibitorischen Interneurone im stratum granulosum.
Sie üben auf Körnerzellen feedback- und feedforward- Inhibition aus
Die Kleinhirnrinde kann in drei funktionell spezialisierte Schichten eingeteilt werden:
Innen das stratum granulosum (thick granular layer),
dicht mit Körnerzellen (granule cells) bepackt (ihre Zahl wird auf 100 Milliarden geschätzt). Sie enthält weiters Interneuronen - vor
allem Golgi-Zellen, in einigen Regionen auch Lugaro- und unipolare Bürstenzellen (unipolar brish cells) sowie Kandelaberzellen (chandelier cells).
Diese Schicht erhält Eingänge durch Moosfasern
( Abbildung). Deren Endigungen sind kolbenartig aufgetrieben und
bilden mit Dendriten von Körnerzellen sowie Axonen von Golgi-Zellen
synaptische Komplexe, die als cerebellare Glomeruli benannt wurden.
In der Mitte die Purkinje-Zellschicht (Purkinje layer) - die Axone der Purkinje-Zellen sind die Ausgänge aus dem zerebellären
Kortex. Diese großen GABAergen Zellen (ihr soma hat 50-80 µm
Durchmesser) stehen hier in einer Reihe nebeneinander, ihr
fächerartiger Dendritenbaum ragt - quer zur blattförmigen Kleinhirnwindung orientiert - in
die äußere Rindenschichte und empfängt Inputs von Kletterfasern,
Körnerzellen und inhibitorischen Interneuronen. Purkinje-Zellen
projizieren auf Neurone in Kleinhirnkernen oder auch direkt auf
Vestibulariskerne (Vestibulocerebellum).
Außen die Molekularschicht (äußere Rindenschicht, molecular layer) mit den flächenförmigen Dendritenbäumen der Purkinjezellen,
rechtwinkelig dazu angeordneten Parallelfaserbündeln (Axone von Körnerzellen), und (ganz außen)
Sternzellen (stellate cells) und Korbzellen (basket cells) mit ihren inhibitorischen Synapsen an Purkinje-Dendriten. Parallelfasern laufen entlang der Längsachse der Kleinhirnwindung und nehmen so mit einer großen Zahl von Purkinje-Zellen Kontakt auf.
Das Kleinhirn ist mit dem Hirnstamm durch die Kleinhirnstiele (pedunculus
cerebellaris anterior, medius und inferior) verbunden ( Abbildung unten) und massiv in die motorische Planung des Großhirns
eingebunden: Die kortiko-ponto-zerebelläre Projektion enthält 20-mal
mehr Fasern (~2x107)
als die Pyramidenbahn.
Das laterale Kleinhirn projiziert über den lateralen Thalamus auf die
Großhirnrinde zurück. Dies ermöglicht fein abgestimmte, präzise Steuerung
komplexer Willkürbewegungen (Timing, Richtung, Kraft).
Das Kleinhirn empfängt
für das richtige Timing und die korrekte Stärke seiner motorischen
Koordinationstätigkeiten notwendige Information über Körperhaltung,
Gleichgewicht und motorische Pläne des Gehirns über Projektionen
aus
der Somatosensorik (via tractus spinocerebellares: Position der
Extremitäten durch Muskelspindeln, Sehnenorgane, Gelenkrezeptoren),
aus dem
Gleichgewichtssinn (via tractus vestibulocerebellares),
aus motorischen Hirnarealen
(via tractus olivocerebellares, Umschaltung in der pons).
Diese Strukturierung spiegelt die Phylogenese
(Ur-, Alt- und Neukleinhirn) wider (s. weiter unten).
Das Rückenmark ist mit dem Kleinhirn über die unteren Kleinhirnstiele (pedunculi cerebellares inferiores in der medulla oblongata) verbunden. Sie leiten spinale Afferenzen zur Kleinhirnrinde.
Die Brücke (pons) ist mit dem Kleinhirn über die mittleren Kleinhirnstiele (pedunculi cerebellares medii) verbunden. Diese leiten die pontinen Afferenzen zur Kleinhirnrinde.
Die oberen Brückenanteile (Konnex zu Mittelhirn und Thalamus) sind mit dem Kleinhirn über die oberen Kleinhirnstiele (pedunculi cerebellares superiores in der pons) verbunden.
Über Projektionen des Großhirns in das cerebellum s. dort
In die
Kleinhirnrinde projizieren zwei Gruppen exzitatorisch wirkender
Neuronen, die Information unterschiedlich codieren und verarbeiten.
Beide bilden exzitatorische Synapsen in der Kleinhirnrinde und in
Kleinhirnkernen aus, ihre Verbindungsstrategien und Wirkungen sind aber
unterschiedlich.
Kletterfasern
(climbing fibers)
heißen deswegen so, weil sie an proximalen Dendriten einer
Purkinjezelle emporklettern wie eine Weinranke an einem Baum. Sie
stammen vor allem aus dem unteren Olivenkern
des
Hirnstamms (olivozerebelläre Fasern), der seinerseits Impulse aus dem
motorischen Kortex, dem nucl. ruber sowie von Vestibulariskernen
empfängt.
Die untere Olive projiziert mittels Kletterfasern auf Purkinje-Zellen der Kleinhirnrinde
|
Die Neurone in der unteren Olive sind mittels gap junctions miteinander verknüpft, wodurch ihre Entladungsmuster synchronisiert sind. Ihre Neuronen entsenden Kollateralen zu
intrazerebellären Kernen und ziehen zum Dendritenbaum jeweils einer
Purkinje-Zelle, wo sie (glutamaterg / aspartaterg) anregend wirken und so deren
inhibitorischen Einfluss steuern. (Andererseits werden Purkinje-Zellen durch GABA-erge Golgi-, Korb- und Sternzellen gehemmt.)
Jede Kletterfaser bildet an einer bis 10 Purkinje-Zelle(n) zahlreiche (jeweils etwa 200) Synapsen. Jedes
einzelne Aktionspotential der Kletterfaser bewirkt dank der zahlreichen Synapsen ein mächtiges EPSP
(~40 mV Amplitude, spannungsabhängiger Na+- / Ca++-Einstrom) an der Purkinje-Zelle, vergleichbar der Depolarisierung an motorischen
Endplatten (einzelne glutamaterge Synapsen generieren EPSPs von nur 0,01-1 mV). Der Effekt ist eine Serie von Entladungen der Purkinje-Zelle ("complex spike":
Auf ein großes Aktionspotential folgt eine Serie hochfrequenter kleiner
Entladungen). Jede Purkinje-Zelle wird von nur einer Kletterfaser
innerviert.
Moosfasern (mossy fibers) kommen von verschiedenen Teilen des ZNS - Rückenmark, formatio reticularis, pons, Vestibulariskerne, Großhirnrinde (via Brücke: Pontozerebelläre Eingänge). Sie sind polysynaptisch verschaltet und bringen erregende Impulse aus Somatosensorik und motorischer Planung an
Zellen der Kleinhirnrinde (Körnerzellen) und Kleinhirnkerne.
Ihr Einfluss auf Purkinjezellen erfolgt indirekt und multisynaptisch: In der Molekularschicht depolarisieren sie Dendriten von Körnerzellen.
Körnerzellen erhalten Information von einer sehr geringen Zahl (3 bis
5) von Moosfasern; sie haben eng umschriebene räumliche Zuordnung,
aber die auf sie wirkenden Moosfasern können von verschiedenen
Sinnesmodalitäten sowie motorischer Mitinnervation stammen. Die Axone
der Körnerzellen bilden Parallelfasern;
diese enden in Synapsen auf Purkinje-Zellen, wobei intensive
Konvergenz- und Divergenzschaltungen erfolgen (eine Purkinjezelle kann
von bis zu einer Million Körnerzellen beeinflusst werden, allerdings
nicht gleichzeitig).
Afferenzen zu Körnerzellen sind sowohl
exzitatorisch (Moosfasern
aus Großhirn, Vestibularsystem und Rückenmark - die Anzahl der
Körnerzellen übertrifft diejenige der Moosfasern um das 200-fache) als auch
inhibitorisch (von Golgi-Zellen).
Körnerzellen werden von Golgi-Zellen GABAerg gehemmt und regen Purkinjezellen glutamaterg an
|
Wie kooperieren Kleinhirnzellen?
Exzitatorische Interneurone. Die zerebellären Körnerzellen (cerebellar granule cells) sind das größte Neuronensystem im ZNS (≥50% aller Nervenzellen des Menschen; ~4x1010 Zellen). Sie wirken exzitatorisch, ihr Transmitter ist Glutamat.
Körnerzellen verfügen über eine spezielle Art von spannungsabhängigen Ca++-Kanälen (R- oder intermediate-voltage-activated), die schon bei mäßiger Depolarisation geöffnet werden.
Die Eingänge ins Kleinhirn wirken exzitatorisch:
Kletterfasern (aus der unteren Olive) wirken auf tiefe Kleinhirnkernzellen und Purkinje-Zellen, Moosfasern (aus präzerebellären Kernen, z.B. der pons) auf Körnerzellen und damit indirekt auf Purkinjezellen.
Deren Neuriten sind die einzigen Ausgänge aus der Kleinhirnrinde und wirken inhibitorisch auf tiefe Kleinhirnkerne (zerebelläre Kerne), deren Neuriten ebenfalls inhibitorisch wirken.
Körnerzellen wirken über ihre Parallelfasern exzitatorisch auf Purkinje-, Stern- und Korbzellen.
Golgi-, Stern- und Korbzellen sind GABAerg, sie wirken inhibitorisch. Lugaro-Zellen sind sensorische Interneurone des Kleinhirns, sie wirken ebenfalls inhibitorisch. Sie werden serotoninerg angeregt und können vermutlich 5-15 Purkinje-Zellen sowie bis zu 100 Golgi-Zellen erreichen. Golgi-Zellen werden von Moos- und Kletterfasern aktiviert und schalten den Moosfasereingang aus, indem sie Körnerzellen hemmen.
LTD, Langzeitdepression in
Purkinje-Zellen, ausgelöst durch vereinte Wirkung von Parallelfasern und Kletterfasern N-O, nukleo-oliväre Projektion R-O, rubro-oliväre Projektion
Die Axone der Körnerzellen (Efferenz) steigen zur Molekularschicht auf, teilen sich T-förmig und bilden je zwei ca. 3 mm lange Parallelfasern ( Abbildung). Mit diesen regen sie Purkinje-, Stern- und Korbzellen an:
Etwa jede vierte
Purkinje-Zelle wird auf dem Weg der Körnerzell-Axone synaptisch kontaktiert, wobei
eine Parallelfaser jeweils
eine Purkinjezelle beeinflusst. Andererseits erhält jede Purkinje-Zelle Synapsen von bis zu 10
6 Parallelfasern - d.h. ebenso vielen Körnerzellen.
Purkinje-Zellen sind stark
spontanaktiv (um die 100 Hz Spontanfrequenz -
simple spikes), auch ohne dass sie von
Parallelfasern erregt werden; Ca
++-aktivierte
Kaliumkanäle beteiligen sich an der Depolarisation. Sie können ihre
Aktionspotentialfrequenz auf mehrere hundert pro Sekunde steigern, z.B.
während Bewegungen der Extremitäten oder der mimischen Muskulatur.
Kletterfasern beteiligen sich an der Generierung niedrigfrequenter (einige Hz)
complex spikes (große Depolarisierung, gefolgt von kleineren Spitzen).
Die Aktionspotentiale der Purkinje-Zellen können sowohl natrium- als auch
calciumbetrieben sein (
P-type calcium channels, P nach Purkinje).
Schilddrüsenfunktion und Entwicklung der
Kleinhirnrinde: Die Ausprägung des Dendritenbaums der Purkinje-Zellen
(und der an ihm angreifenden Synapsen von Parallelfasern) steht unter
dem Einfluss von Schilddrüsenhormonen:
Hypothyreose führt zu
dramatischer Verarmung der Synapsen- und Dendritendichte und damit einer Einschränkung der Kleinhirnfunktionen.
Inhibitorische Interneurone verwenden als Transmitter GABA. Golgi-Zellen hemmen Körnerzellen, Stern- (stellate cells) und Korbzellen (basket cells) Purkinje-Zellen. Stern- und Korbzellen werden von den Parallelfasern der Körnerzellen angeregt und
inhibieren ihrerseits die Purkinjezellen mittels GABA. Korbzellen
bilden korbartige Neuritenverzweigungen um den Körper der
Purkinjezelle; Sternzellen sind in ähnlicher Weise verschaltet, bilden
aber keine Faserkörbe aus.
Auf die Purkinjezellen wirken Moosfasern direkt, Körnerzellen (über ihre Parallelfasern) indirekt
exzitatorisch ein (auf jede Purkinjezelle konvergieren über 2000 Körnerzellen)
Gehemmt werdern Purkinjezellen von Korb-, Stern- (Stellatum-) und Lugarozellen
.
Die Axonverzweigungen der
Korbzellen
laufen senkrecht zu den Parallelfasern und parallel zu den
Dendritenbäumen der Purkinjezellen, die sie GABAerg hemmen (laterale Inhibition)
Zelltyp
|
Schicht
|
Transmitter
|
Afferenzen
|
Efferenzen
|
Purkinjezellen
|
Purkinje-
Zellschicht
|
GABA (inhibitorisch)
|
Kletterfasern
Körnerzellen
Korbzellen
Sternzellen
|
Kleinhirnkerne
(& nuclei vestibulares)
|
Körnerzellen
|
stratum granulosum
(innere Rindenschicht)
|
Glutamat (exzitatorisch)
|
Moosfasern
Golgizellen
|
Purkinjezellen
Golgizellen
|
Golgizellen
|
GABA (inhibitorisch) |
Moosfasern
Körnerzellen
|
Körnerzellen
|
Korbzellen
|
stratum moleculare
(äußere Rindenschicht)
|
Körnerzellen
|
Purkinjezellen
|
Sternzellen
|
Abbildung: Rückkopplungskreise im Kleinhirn
Nach Raymond JL, Lisberger SG, Mauk MD: The cerebellum: a neuronal learning machine? Science 1996; 272: 1126-31
Modulare zerebelläre "Mikroschaltkreise" ermöglichen recurrent loops - wie hier gezeigt (schwarze Schleifen):
Links: Golgi-Zelle (inhibitorisch) - Körnerzelle (exzitatorisch) - Golgi-Zelle
Rechts: Purkije-Zelle (inhibitorisch) - Kleinhirnkernneuron (inhibitorisch) - Neuron in unterer Olive (exzitatorisch)
Der Bauplan des Kleinhirns enthält mehrere Rückkopplungsschleifen (recurrent loops, Abbildung):
So
hemmen Golgi-Zellen (GABAerg) die Aktivität von Körnerzellen, diese
regen wiederum (glutamaterg) über Parallelfasern Dendriten von
Golgi-Zellen an. Diese Schaltung erfolgt ausschließlich in der Kleinhirnrinde und kann die Aktivität der Körnerzellen
(in Antwort auf Anregung über Moosfasern) limitieren, oder die Zahl der
Moosfasereingänge regulieren, welche zur Akivierung der Körnerzelle
notwendig ist;
Purkinjezellen können Einfluss auf den Input über Kletterfasern nehmen:
Sie hemmen die Aktivität von Neuronen in Kleinhirnkernen, die wiederum
auf die untere Olive projizieren - wo Kletterfasern entspringen, die
ihrerseits auf Purkinje-Zellen projizieren. Auf diese Weise kann die
Purkinjezelle ihren eigenen Input über Kletterfasern
regulieren.
Gemeinsam ist diesen Verschaltungsstrategien die parallele Wirkung
exzitatorischer und inhibitorischer Pfade zu Purkinjezellen und
Kleinhirnkernen. Anregende Projektionen durch Moosfasern (→ Körnerzellen →
Purkinjezellen) arbeiten zusammen mit inhibitorischen durch
Interneurone in der Molekularschicht (Sternzellen lokal eng begrenzt,
Korbzellen mit weiter reichender Wirkung).
Kleinhirn und Lernen: Kletterfasern sind in der Lage, an Synapsen zwischen Parallelfasern und Purkinjezellen Langzeitdepression (Minuten bis Stunden) zu bewirken - selektiv
an Parallelfasern, die zusammen mit Kletterfasern angeregt wurden.
Möglicherweise unterstützt dieser Mechanismus motorische Lernvorgänge,
an denen das Kleinhirn teilnimmt (von der Okulomotorik bis zur Lokomotion)
und die eine Anpassung von Timing und Intensität von Bewegungen an
geänderte Bedingungen ermöglichen. Solche Lernvorgänge sind auf allen
Ebenen des Kleinhirns nachgewiesen worden - nicht nur in der Rinde,
sondern auch in den Kleinhirnkernen.
Efferenzen aus dem Kleinhirn
Aus der Kleinhirnrinde gibt es nur
eine Efferenz: Axone der Purkinje-Zellen, ihr Transmitter ist GABA. Sie wirken inhibitorisch auf die zuständigen
Kleinhirnkerne (an denen auch exzitatorische Kollateralen von Moos- und Kletterfasern
enden).
Die Kleinhirnkerne sind eine der Kleinhirnrinde zugeschaltete
Rechenstation, deren Neurone inhibitorisch wirken. Sie sind spontan aktiv,
auch in Abwesenheit synaptischer Einflüsse. Die inhibitorische Wirkung
von Purkinje-Zellen verringert diese Spontanaktivität, wirkt also
disinhibierend auf die Neurone der Kleinhirnkerne. (Moosfasern wirken
gleichzeitig anregend auf sie, verstärken also ihre inhibitorische
Wirkung.)
Ihre Efferenzen projizieren auf verschiedene Strukturen des Hirnstamms:
Ausgänge aus dem Neocerebellum projizieren auf Nucl. ruber und Thalamus - Ablauf und Feinabstimmung willkürlicher Zielbewegungen werden auf diesem Weg beeinflusst
Das Spinocerebellum projiziert auf Nucl. ruber und formatio reticularis - so werden
Tonus und Bewegungsfolgen vor allem proximaler Extremitätenmuskeln
beeinflusst, Stand- und Gangmotorik koordiniert
Projektionsziele des Vestibulocerebellums für Blickmotorik, Stand- und Gangstabilisierung sind formatio reticularis und Augenmuskelkerne.
Die Phylogenese spiegelt die Entwicklung der Kleinhirnfunktionen wider
Ur-,
Alt- und Neukleinhirn spiegeln die phylogenetische Entwicklung des
cerebellum wider und dienen unterschiedlichen Aufgaben (vgl. Tabelle oben). Diese
Einteilung deckt sich weitgehend mit den Kleinhirneingängen:
Abbildung: Zerebelläre Kerne und Projektionssysteme
Nach einer Vorlage bei thalamus.wustl.edu/course/cerebell.html
Gezeigt sind Eingänge durch den mittleren und unteren, Ausgänge durch den oberen Kleinhirnstiel.
Der motorische Kortex
projiziert auf Neurone in der Brücke, diese entsenden Moosfasern in die
Kleinhirnrinde. Moosfasern leiten auch propriozeptive Information aus
der Peripherie (tractus spinocerebellaris). Aus der unteren Olive - diese erhält Afferenzen aus dem Motorkortex und dem nucleus ruber - ziehen Kletterfasern zu Purkinje-Zellen im Kleinhirn.
Das Vestibulocerebellum projiziert direkt auf den nucl. vestibularis lateralis (Deiters).
Das Spinocerebellum projiziert auf den nucl. fastigii, dieser auf formatio reticularis und nucl. vestibularis lateralis.
Das Pontocerebellum projiziert auf nucl. interpositus → nucl. ruber - und auf nucl. dentatus → Thalamus → motorischen Kortex
Das
Urkleinhirn (Archicerebellum) entspricht in etwa dem Vestibulocerebellum; anatomisch umfasst es den nodulo-flokkulären
Teil des Kleinhirns.
Die Eingänge erhält es aus dem Vestibularsystem (Gleichgewichtssinn - Otolithen und Bogengänge) sowie vom visuellen System (Sehrinde via pontine und prätektale Kerne).
Die nuclei fastigii sind die
zuständigen Kleinhirnkerne; diese
projizieren auf die Vestibulariskerne
zurück - auch direkt von der Kleinhirnrinde auf die Vestibulariskerne
(vestibularis lateralis), unter Umgehung der nucll. fastigii -, sowie
zum Hirnstamm
(Kerne zur Steuerung der Augenbewegungen).
Das Vestibulocerebellum beeinflusst Körperhaltung, Gleichgewicht (vestibulären Reflexen) und Augenbewegungen. Der
Einfluss auf die somatische Muskulatur konzentriert sich auf den
Körperstamm und die Extensoren der Beine (aufrechtes Stehen, Erhaltung
der Körperbalance). Der Einfluss auf die Okulomotorik unterstützt
glatte Verfolgebewegungen auf die betreffende Seite.
Das
Altkleinhirn (Paläocerebellum) entspricht in etwa dem Spinocerebellum. Es
umfasst den Kleinhirnwurm
(vermis; für die Muskulatur des Stammes zuständig) und benachbarte
(intermediäre) Teile der Hemisphären (paravermale pars intermedia; koordiniert die
Extremitätenmotorik).
Eingänge: Es
erhält somatosensorische
Impulse aus Muskeln, Sehnen, Gelenken und Haut
über aufsteigende Bahnen im Rückenmark (tractus spinocerebellaris
dorsalis und ventralis). Diese betreffen Information über Berührung,
Druck, Extremitätenposition.
Ausgänge: Zuständiger Kleinhirnkern ist der nucleus interpositus (bestehend aus nucl. emboliformis und nucl. globosus). Dieser projiziert auf den nucleus
ruber, der auf motorische Vorderhornzellen zugreift und auf
das Kleinhirn rückwirkt.
Die Vermis
erhält visuelle, auditive, vestibuläre und somatische Nachrichten
von Kopf und proximalen Körperpartien und projiziert über den nucl.
fastigii auf Hirnstamm (formatio reticularis) und motorischen Kortex
(via ventrolaterale Thalamuskerne), was zur Kontrolle stammnaher
und Beinmuskulatur beiträgt. Damit steuert sie Gleichgewicht, Fortbewegung und Augenbewegungen.
Die benachbarte hemisphärische pars intermedia
empfängt somatosensorische Impulse aus den Extremitäten und projiziert
auf den nucl. interpositus, der über tractus rubrospinalis und (via ventrolaterale Thalamuskerne) corticospinalis lateralis distale Extremitäten- sowie Fingermuskeln ansteuert.
Das Spinocerebellum beeinflusst axiale Muskulatur und Körperhaltung / Extremitätenmotorik.
Abbildung: Eingänge zum (oben) und Ausgänge aus dem Kleinhirn (unten)
Nach einer Vorlage in Kandel / Koester / Mack / Siegelbaum (eds), Principles of Neural Sciences, 6th ed. 2021 (McGraw Hill)
Drei funktionale Zonen des Kleinhirns: Die
lateralen Hemisphären beeinflussen die motorische Planung im Großhirn;
das mediale Spinocerebellum steuert Muskeltonus und Bewegungsausführung
des Körpers; das Vestibulocerebellum kümmert sich um Gleichgewicht und
Augenbewegungen.
Somatotopische Gliederungen angedeutet
D = nucleus dentatus, IP = nucl. interpositus (emboliformis & globosus), F = nucl. fastigii
Das
Neukleinhirn (Neocerebellum) entspricht in etwa dem Pontocerebellum (auch
Zerebrocerebellum). Es umfasst die
seitlichen Anteile der Hemisphären.
Eingänge: Breite Kortexareale projizieren mittels pontiner Umschaltung (synaptische Verstärkung über Brückenkerne - die
kortiko-ponto-zerebelläre Projektion umfasst etwa 20 Millionen Axone,
das ist das ~20-fache der Zahl der Pyramidenbahnfasern) auf die neokortikalen Anteile des cerebellum (mittlerer Kleinhirnstiel).
Ausgänge über den
nucleus dentatus auf den ventrolateralen Thalamus.
So beeinflusst das Neocerebellum (kontralateral) die Bewegungsplanung
der motorischen und prämotorischen, parietalen und präfrontalen
Großhirnrinde. Der nucl. dentatus projiziert auch auf den (kontralateralen) nucleus ruber.
Das Pontocerebellum beeinflusst Planung und Koordination der Extremitätenbewegungen unter
besonderer Berücksichtigung der visuellen Kontrolle. Seine Berechnungen
sind für rasche, koordinierte Bewegungen deswegen so wichtig, weil sie Vorhersagen
über den Effekt der motorischen Aktivität erlauben - angesichts der
Geschwindigkeit der Abläufe wäre eine präzise Kontrolle nicht über
sensorische Rückkopplung möglich.
Diese prädiktive
Rechenleistung steuert den Output des Motorkortex (Kraft, Zeit,
Richtung z.B. einer ballistischen Bewegung) auf der Basis motorischer
Erfahrungen (implizites Gedächtnis).
Die Zellgruppen in der Kleinhirnrinde sind somatotopisch
gegliedert- mit mehrfacher Repräsentierung des Körpers: Im
Vorderlappen median-symmetrisch, sowie insgesamt vier weitere Male in
den Hemisphären des Hinterlappens.
Vestibulocerebellum
|
Steuerung der Blickmotorik
Stabilisierung von Stehen und Gehen
Koodination mit dem Gleichgewicht
|
Spinocerebellum
|
Stabilisierung von Stehen und Gehen
Koodination mit dem Gleichgewicht |
Pontocerebellum
|
Ablauf willkürlicher Zielbewegungen
Bearbeitung der Bewegungsplanung
Präzisierung des Sprechens
|
Neurone im zerebellären Kortex und zugeordneten Kleinhirnkernen zeigen bei
Willkürbewegungen intensive Aktivität - synchron mit der Aktivität
entsprechender Neurone in der Großhirnrinde.
Schon Galen (2. Jhd.) vermutete eine Wirkung des Kleinhirns auf die Motorik. Luigi Rolando
wies 1809 darauf hin, dass Beschädigung des Kleinhirns zu motorischen
Ausfällen führt. Fußend auf zahlreichen Experimenten wurde die Rolle
des Kleinhirns für die Bewegungskontrolle 1823 von M.J.P. Flourens beschrieben - Tiere mit Kleinhirnschaden konnten sich zwar bewegen, aber unkoordiniert und geschwächt.
Zerebelläre Funktionsmuster
Räumliche Präzisierung: In
die Kleinhirnrinde
geleitete Impulse bewirken aufgrund der Verschaltungsarchitektur
(präzise Inhibierung) keine breite Anregung, sondern scharf
begrenzte Exzitationsstreifen.
Purkinje-Zellen exekutieren eine Art motorisches Gedächtnis,
bei dem Aktivitäten der Kletterfasern mit denen der Parallelfasern
- die jeweils auf bestimmte Purkinjezellen konvergieren - verglichen
und wahrscheinlich an Glutamatrezeptoren modifiziert werden (vgl. Langzeitpotenzierung).
Zwischen
dem unteren Olivenkomplex und der Kleinhirnrinde (→
Kletterfaserrn), Kleinhirnkernen (Ausgänge Purkinjezellen), nucl.
ruber und zurück zum unteren Olivenkomplex besteht ein Rückkopplungskreis ( Abbildung), wobei Ausgänge aus diesem System vor allem
nach oben von den Kleinhirnkernen zu
Thalamus und motorischer Großhirnrinde, und
nach unten vom nucl. ruber zu
Rückenmark und motorischen Vorderhornzellen bestehen (
Abbildung).
Untere Olive: Die in der medulla oblongata gelegenen unteren Olivenkerne
beziehen sowohl aszendierende (aus dem Rückenmark) als auch
deszendierende Afferenzen (von der motorischen Großhirnrinde und dem
nucleus ruber). Ihre Aufgabe besteht in der Steuerung der motorischen Koordination sowie motorischer Lernvorgänge.
Sie sind so intensiv in Feedback-Mechanismen der Kleinhirnfunktion
eingebunden, dass Olivenkerne und Kleinhirn wechselseitig aufeinander
angewiesen sind und ohne Rückwirkung durch den jeweils anderen nicht
funktionsfähig bleiben können.
Abbildung: Kleinhirn und Konditionierung
Unter Verwending einer Vorlage bei Breedlove / Watson, Behavioral Neuroscience, 8th ed. Sinauer / Oxford 2018
Vor Konditionierung (links oben) wirkt nur der angeborene Reflex (grüne Pfeile): Ein Luftstoß gegen die Hornhaut löst einen Lidschluss aus. Der Reflexweg läuft über den N. ophthalmicus
und Trigeminuskern, weiter über Zwischenstationen im Hirnstamm zum
Facialiskern und von dort zum m. orbicularis oculi, die Reflexzeit
beträgt eine Viertelsekunde.
Der (unkonditionierte) Reiz des Luftstoßes wird auch auf das Kleinhirn
(den nucl. interpositus) projiziert, doch wird dieser Weg normalerweise
nicht aktiviert.
Durch Training (links Mitte)
kann sich das ändern: Kommen - synchron mit dem Luftstoß - immer wieder
zusätzliche Impulse dazu (konditionierter Reiz, hier ein Glockenton),
dann wird der synaptische Reflexweg über das Kleinhirn so gestärkt,
dass er auch unabhängig vom unkonditionierten Reiz zum Lidschluss
führt (links unten).
Die reflektorischen Verschaltungen, die der Konditionierung zugrundeliegen, sind rechts dargestellt
Die Olivenkerne empfangen GABAerge inhibitorische Impulse und entsenden selbst glutamaterge
Fasern. (Pharmakologische Blockade der GABAergen Übertragung schaltet
die Funktion des nucl. interpositus aus.) Neurone in den Olivenkernen
sind u.a. Angriffspunkt für Konditionierung:
Beispielsweise kann der Kornealreflex (Lidschlussreflex, eye blink reflex) über das Kleinhirn so
konditioniert werden, dass ein konditionierter Reiz - z.B. ein
Glockenton - zu seiner Auslösung führt. Zur Erlernung dieser
Konditionierung spielt der nucleus interpositus des Kleinhirns eine Schlüsselrolle ( Abbildung).
Das Kleinhirn ist für konditioniertes Lernen wichtig, auch im Rahmen von kognitiven Lernprozessen sowie Emotionen, z.B. erlernter Angst.
Das Kleinhirn spielt auch für die Schmerzverarbeitung eine wichtige Rolle; es wird bei Reizung der Nozizeption - wie auch der Thalamus - stark angeregt.
Abbildung: Wie das Neukleinhirn die Motorik beeinflusst
Nach einer Vorlage in Ropper / Samuels / Klein /
Prasad: Adams and Victor's Principles of Neurology, 11th ed.
McGraw-Hill Education 2015
Aufsteigende Fasern blau, absteigende rot gezeigt
Beeinflussung motorischer Systeme über aufsteigende Kleinhirnefferenzen. Die Abbildung gibt eine Übersicht zerebellärer Ausgänge über den oberen Kleinhirnstiel. Die Projektionen erfolgen
auf das Mittelhirn (nucleus ruber, formatio reticularis - und von da zum Rückenmark) sowie
direkt (vom nucl. dentatus) und indirekt (vom nucl. ruber) auf den Thalamus (und weiter zum Motorkortex - area 4. primär-motorischer Kortex, und area 6 - prämotorischer und supplementärmotorischer Kortex).
Vgl. Übersicht zur motorischen Kontrolle
Zeitliche Kontrastierung:
Insgesamt ergibt sich ein Kontrollsystem, das aktivierte Muskelgruppen im Nu
wieder "ausschalten" kann und dadurch rasch aufeinander folgende, z.T.
antagonistische Bewegungen ermöglicht.
Die hauptsächlich inhibitorischen synaptischen
Verknüpfungen generieren
oszillatorische Aktivitäten der
Purkinjezellen, die dieses Muster wechselnder Hemmung und Anregung auf
tonisch aktive Neuronen in den Ausgangskernen der Kleinhirns
übertragen.
Andererseits ergibt sich eine
präzise zeitlich-räumliche
Funktionsstruktur, welche die Grundlage für Tonuskontrolle, Koordination,
Präzision und Diadochokinese liefert.
Fazit:
Das Kleinhirn plant, generiert und koordiniert
präzise Bewegungen und beeinflusst alle Aspekte der sensomotorischen
Kontrolle.
Das komplexe Funktionsmuster der Kleinhirnzellen ist noch nicht
vollständig verstanden. Zu den gut verstandenen Prinzipien gehören:
"Einbahnschaltung":
Die Signalverarbeitung erfolgt weitgehend unidirektional.
Zwischenverschaltungen sind rar und hauptsächlich inhibitorisch. Im
Gegensatz zur Großhirnrinde generiert das Kleinhirn keine
selbsterhaltenden Erregungskreise - in den zerebellären Prozessor
eingespeiste Signale werden verarbeitet und das Resultat verläßt das
Kleinhirn.
Rechenaufwand:
Die Information von ~200 Millionen Moosfasern wird von ~50 Milliarden
Körnerzellen verarbeitet, und deren Parallelfasern steuern 15 Millionen
Purkinjezellen (etwa 1000 Purkinjezellen bilden eine "Mikrozone" mit
Input von rund 100 Millionen Parallelfasern und fokussieren ihren
Output auf ~50 Kleinhirnkern-Neurone). Das bedeutet: Der kortikale Rechenaufwand ist im Vergleich zur Zahl der Ein- und Ausgänge enorm hoch.
Modularität:
Das Kleinhirn ist in (vermutlich hunderttausende) ziemlich separierte
Recheneinheiten gegliedert, die sich in ihren Projektionen
unterscheiden, nicht aber in der internen Struktur - da sind sie sich
sehr ähnlich. Als Modul
bezeichnet man hier eine kleine Gruppe von Neuronen in der unteren
Olive mit einer "Mikrozone" an Purkinjezellen sowie einer dazugehörigen
kleinen Neuronengruppe in einem Kleinhirnkern. Die Module arbeiten
weitgehend unabhängig, teilen sich aber Eingänge von Moos- und
Kletterfasern.
Plastizität:
Die Synapsen zwischen Parallelfasern und Punkinjezellen sowie die
zwischen Moosfaern und Kleinhirnkernneuronen sind in ihrer
Wirkungsstärke beeinflussbar. In einem Modul konvergiert der Einfluss
von ≤109 Parallelfasern auf <50 Zellen im Kleinhirnkernbereich,
wobei die Synapsenstärke veränderbar ist. Dadurch kann das Verhältnis
der neuronalen Eingangs- zu Ausgangsintensität bedarfsabhängig
angepasst werden.
Symptome bei Kleinhirnstörungen
Störungen in der
Kleinhirnrinde können eher kompensiert werden als solche der
Kleinhirnkerne. Die Aufgaben des Kleinhirns werden besonders deutlich
durch die Symptome klinischer Störungen und Ausfälle, die man in Gruppen einteilt:
Abbildung: Finger-Nasen-Test
Nach einer Vorlage bei doctorlib.info/neurology
Die
untersuchte Person wird aufgefordert, den Zeigefinger in einer
ausholenden Bewegung rasch zur Nase zu bewegen und die Nasenspitze zu
berühren - mit offenen, dann mit geschlossenen Augen. Bei
Kleinhirnstörung wird die Bewegung mit der Nähe zur Nase immer
unsicherer
Verminderung des Muskeltonus (ipsilaterale Hypotonie), oft mit rascher Ermüdbarkeit
Intentionstremor,
wachsende Unsicherheit und Abweichungen bei Zielbewegungen (z.B.
Finger-Nasen-Test, Abbildung): Hin- und Herbewegungen nehmen an
Amplitude zu, je näher man am Zielort angelangt ist)
Asynergie : Unfähigkeit, die Muskeln korrekt dosiert zu aktivieren. Teilsymptome der Asynergie sind
Bewegungsdekomposition: Die Anteile von Bewegungen werden nacheinander statt gleichzeitig durchgeführt
Dysmetrie: Bewegungen werden unpräzise (zu kurz oder ausfahrend) dosiert und anschließend überkorrigiert (s. Finger-Nasen-Test)
Rebound-Phänomen: Rasche Bewegungen können nicht unvermittelt abgebremst werden
Vestibulozerebelläres Syndrom (auch vestibulozerebelläre Ataxie: Progressiv - zunächst Störungen der Okulomotorik, dann Gleichgewichtsstörungen etc)
(Spino-) zerebelläre Ataxie: Stand- und Gangunsicherheit, Störungen von Augenbewegungen, Gleichgewicht, Orientierung, Wahrnehmung, im Extremfall subkortikale Demenz
Dys- (A-) diadochokinese: Schwierigkeiten bei, oder Unfähigkeit zu, rasch wechselnden Bewegungen
Zerebelläre Sprache: Undeutliches, “bellendes”, skandierendes Sprechen (Dysarthrie)
Zerebellärer Nystagmus: Spontane Blickunruhe (Störung des Urkleinhirns)
Abbildung: Ataxietest Pronation-Supination
Nach einer Vorlage bei neupsykey.com
Die
Hände werden getrennt sowie synchron geprüft. Die Hand auf der gesunden
Seite wechselt regelmäßig, rasch und koordiniert zwischen Pronation und
Supination. Die Hand auf der erkrankten Seite (Dysmetrie, Dystaxie)
zeigt ungleiche, unsichere, verlangsamte, teils überschießende, teils
verringerte Auslenkungen
Besonders
dramatisch erscheint die Symptomatik bei plötzlichem Funktionsausfall,
z.B. infolge Blutung im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels, oder bei
schweren angeborenen Defekten wie z.B. fehlender Anlage des
Kleinhirnwurms (selten - Joubert-Syndrom: Die Neugeborenen zeigen verringerten Muskeltonus, spontane Augenbewegungen, Gleichgewichtsstörungen, Ataxie u.a.).
Andererseits ist mehrfach weitgehendes oder völliges Fehlen
entsprechender Ausfallsyndrome bei unvollständiger (Hypoplasie) oder
gänzlich fehlender (Aplasie) Anlage des Kleinhirns beschrieben worden.
Dies weist auf die Fähigkeit intakter Hirnteile hin, zerebelläre
Funktionen zu übernehmen. Warum dies dem Gehirn manchmal gelingt und
manchmal nicht, ist Gegenstand der Forschung.
Eine Kombination der Kleinhirnsymptome Intentionstremor (Unsicherheit bei gezielten Bewegungen), Spontannystagmus und skandierende Sprache kann bei Multipler Sklerose auftreten (~15%), man bezeichnet sie in der Neurologie als Charcot-sche Trias (nicht verwechseln: Es gibt auch eine Charcot-sche
Trias in der Inneren Medizin, diese kann bei Cholangitis auftreten -
Fieber, Gelbsucht, Schmerzen im rechten Oberbauch).
Dass das Kleinhirn auch an der Steuerung vegetativer Vorgänge beteiligt
ist, zeigt sich daran, dass Patienten mit zerebellären Erkrankungen
auch an viszeromotorischen Störungen leiden können.
Symptome einer Kleinhirnschädigung sind u.a. Ataxie, Adiadochokinese, Spontannystagmus, Dysarthrie
|
Das Kleinhirn koordiniert Okulomotorik (vorwiegend
Vestibulocerebellum), Stützmotorik (Haltung und Bewegung: Vestibulo-
und Spinocerebellum) und Zielmotorik (Pontocerebellum). Zusätzlich zu
diesen sensomotorischen Aufgaben
beeinflusst das Kleinhirn
Kognition, Zeit- und Raumwahrnehmung, Kurzzeitgedächtnis, Sprache und
Viszeromotorik
Die Zahl der Projektionsfasern in das Kleinhirn ist ~40mal größer als
die Zahl seiner Efferenzfasern (das kortiko-ponto-zerebelläre System
enthält 20-mal mehr Fasern als die Pyramidenbahn). In die
Kleinhirnrinde projizieren Kletterfasern (vor allem aus der
unteren Olive) und Moosfasern (aus Rückenmark, formatio reticularis,
pons, Vestibulariskernen)
Die Kleinhirnrinde besteht aus der äußeren Molekularschicht (GABAerge
Synapsen an Dendritenbäumen von Purkinje-Zellen), der mittleren
Purkinje-Zellschicht und dem inneren, dicht mit Körnerzellen besetzten
stratum granulosum
Afferenzen zu Körnerzellen sind sowohl exzitatorisch (Moosfasern aus
Großhirn, Vestibularsystem und Rückenmark) als auch inhibitorisch (von
Golgi-Zellen). Körnerzellen sind die zahlreichsten Nervenzellen im ZNS;
sie werden von Golgi-Zellen GABAerg gehemmt, regen Purkinje-, Stern-
und Korbzellen glutamaterg an
Purkinje-Zellen sind spontanaktiv (~100 Hz) und bilden sowohl natrium-
als auch calciumbetriebene Aktionspotenziale. Moosfasern wirken auf
Purkinje-Zellen direkt, Körnerzellen (über ihre Parallelfasern)
indirekt exzitatorisch ein. Axone der Purkinje-Zellen sind die einzige
Efferenz aus der Kleinhirnrinde; sie wirken inhibitorisch (GABA) auf
Kleinhirnkerne
Kleinhirnkern-Neurone wirken inhibitorisch auf nucl. ruber und Thalamus
(Zielbewegungen), formatio reticularis (Tonus und Bewegungsfolgen vor
allem proximaler Extremitätenmuskeln, Stand- und Gangmotorik) sowie
Augenmuskelkerne
Das Urkleinhirn (Archicerebellum) entspricht dem Vestibulocerebellum
(nodulo-flokkulärer Anteil): Eingänge aus dem Gleichgewichtssinn,
Ausgänge über die nuclei fastigii zurück zu Vestibulariskernen. Das
Vestibulocerebellum steuert Körperhaltung, Gleichgewicht und
Augenbewegungen
Das Altkleinhirn (Paläocerebellum) entspricht dem
Spinocerebellum (vermis und intermediäre Hemisphären): Eingänge aus
Muskeln, Sehnen, Gelenken und Haut, Ausgänge über den nucleus interpositus auf nucleus
ruber und von dort auf motorische Vorderhornzellen. Das Spinocerebellum beeinflusst Körperhaltung und Extremitätenmotorik
Das Neukleinhirn (Neocerebellum) entspricht dem Pontocerebellum
(seitliche Anteile der
Hemisphären): Eingänge vom Großhirn (über die Pons), Ausgänge über nucleus dentatus auf den
Thalamus. Das Pontocerebellum beeinflusst die Bewegungsplanung der motorischen und
prämotorischen Großhirnrinde (Kraft, Zeit, Richtung) und speichert motorische Erfahrungen (implizites Gedächtnis)
Oszillatorische Aktivität der Purkinjezellen ist verknüpft mit
wechselnder Hemmung und Anregung motorischer Funktionsgruppen. Präzise
zeitlich-räumliche Muster sind die Grundlage für Tonuskontrolle,
Koordination, Präzision und Diadochokinese
Symptome einer Kleinhirnschädigung sind u.a. Ataxie, Adiadochokinese,
Intentionstremor, Asynergie, Spontannystagmus, Dysarthrie
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Die Informationen in dieser Website basieren auf verschiedenen Quellen:
Lehrbüchern, Reviews, Originalarbeiten u.a. Sie
sollen zur Auseinandersetzung mit physiologischen Fragen, Problemen und
Erkenntnissen anregen. Soferne Referenzbereiche angegeben sind, dienen diese zur Orientierung; die Grenzen sind aus biologischen, messmethodischen und statistischen Gründen nicht absolut. Wissenschaft fragt, vermutet und interpretiert; sie ist offen, dynamisch und evolutiv. Sie strebt nach Erkenntnis, erhebt aber nicht den Anspruch, im Besitz der "Wahrheit" zu sein.