Eine Reise durch die Physiologie - Wie der Körper des Menschen funktioniert
 

   
Physiologie der Sinnesorgane

  Zerebrale Verarbeitung visueller Information
© H. Hinghofer-Szalkay

Akinetopsie: ἀ(v) = Verneinung, κίνησις = Bewegung, ὤψ = Auge
Autoradiographie: αὐτό = selbst, radius = Stab, Radspeiche, Strahl, γραφή = Schrift, Aufzeichnung
Chiasma opticum: χίασμα = Kreuzung, ὤψ = Auge
corpus geniculatum: Kniehöcker (die Neuronenschichten 1-6 sind zu einer knieähnlichen Gestalt gekrümmt)
gyrus fusiformis:
γύρος = Rundung, Saum, fusus = Spindel
Hemineglekt:
ἡμι = halb, neglegere =  vernachlässigen
koniozellulär: κόνις = Staub
Metathalamus: μετά = zwischen, hinter, θάλαμος = Kammer, Zimmer
Meyer'sche Schleife: Adolf Meyer
Prosopagnosie: πρόσωπον = Gesicht, ἀ-γνωσία = Nicht-erkennen
Retinotopie: rete = Netz (Netzhaut), τόπος = Ort, Stelle
visueller Kortex: videre =sehen, cortex = Rinde


Über den Sehnerv geleitete Information gelangt
 

   -- zum Großteil zum corpus geniculatum laterale (seitlicher Kniehöcker des Thalamus, spezialisiert auf ipsi- vs. kontralaterale sowie magno- und parvozelluläre Systeme) und von hier zur Sehrinde im Okzipitalhirn, die zurück auf den Kniehöcker projiziert und dort die neuronale Verarbeitung modifiziert;
 
   -- eine kleinere Portion projiziert auf das Mittelhirn und steuert Pupillenreflexe und Orientierungsbewegungen von Augen und Kopf;
 
   -- ein sehr kleiner Anteil gelangt zum Hypothalamus und synchronisiert biologische Rhythmen mit dem Tag-Nacht-Zyklus. Diese Impulse stammen von fotosensitiven Ganglienzellen in der Netzhaut, die Melanopsin als Sehpigment verwenden.

Die Sehrinde (primärer visueller Kortex) folgt der im corpus geniculatum laterale bestehenden Spezialisierung. Sie zeigt ein entsprechendes Streifenmuster okularer Dominanzsäulen, die mit definierten Netzhautorten jeweils eines Auges korrespondieren. Diese Rindenfelder dienen der Erkennung komplexer Formen, Ausrichtung und Winkellage geometrischer Formen, Analyse von Richtung und Bewegung, Farbunterscheidung und Tiefenbeurteilung.

Der Sehrinde sind sekundäre visuelle Rindengebiete nachgeordnet, die sich mit der weiteren Analyse der visuellen Information befassen, z.B. ein dorsales "Wo"-System im Parietalkortex (Analyse von Objektposition, Bewegung und Tiefe; darauf ausgerichtete motorische Planung) und ein temporales "Was"-System zur Objektidentifikation (Gesichtskennung im gyrus fusiformis) sowie Analyse von Form und Farbe.


Projektionen  Corpus geniculatum laterale Primäre visuelle Rindenfelder Nachgeschaltete Rindengebiete Kortikale Module

Praktische Aspekte       Core messages
 
Die Netzhaut präsentiert dem Gehirn visuelle Information über separate Afferenzsysteme
 
Das Netzhautbild der Umwelt wird in Aktionspotentialmuster umgewandelt, die über den Sehnerv (nervus opticus) sowie - nach der Sehnervenkreuzung - weiter über den tractus opticus (Sehbahn) zum Gehirn gelangen. Die Information der medialen Netzhauthälfte kreuzt in der Sehnervenkreuzung (chiasma opticum , optic chiasm) die Seite. Bilder des rechten Gesichtsfeldes werden in die linke Großhirnhemisphäre geleitet und umgekehrt (Abbildungen). Axone aus der nasalen Retinahälfte (~60%) kreuzen die Mittellinie, Neurone aus der temporalen Retinahälfte (~40%) bleiben auf "ihrer" Seite und kreuzen die Seite nicht.
 
Dieses Kreuzungsschema ist bei Tieren besonders ausgeprägt, bei denen die Augen nach vorne orientiert sind, die Gesichtsfelder stark überschneiden und die binokuläres Sehen nutzen (gilt insbesondere für Primaten). Bei Tieren mit seitlich positionierten Augen (z.B. Fische, Vögel) überschneiden sich die Gesichtsfelder kaum, hier kreuzen alle Nervenfasen des N. opticus die Seite.
 

Abbildung: Von der Netzhaut zum visuellen Kortex
Nach einer Vorlage in Banich / Compton, Cognitive Neuroscience, 4th ed. 2018, Cambridge Univ. Press

Information aus der linken Gesichtsfeldhälfte projiziert in die rechte, aus der rechten Gesichtsfeldhälfte in die linke Hemisphäre


Ob während der embryonalen Entwicklung des Sehsystems der Wachstumskegel (growth cone) eines aus der Netzhaut vorwachsenden Axons im Bereich des Chiasma die Seite kreuzt oder nicht, hängt von der Wirkung steuernder Faktoren (wie Ephrinen) ab. Ephrine spielen auch eine zentrale Rolle bei der Etablierung der genauen Entsprechung von retinalen und tektalen Regionen (reticulocollicular maps), zusammen mit der Wirkung spontaner Entladungen der Ganglienzellen in der Netzhaut (die vor der Geburt keine optischen Reize empfängt). Diese können die Form von Erregungswellen (retinal waves) annehmen, die in den Netzhäuten unabhängig voneinander und daher mit verschiedenen räumlich-zeitlichen Mustern ablaufen und so voneinander unterscheidbar sind.

Wohin ziehen die Fasern des tractus opticus?


      Ein sehr kleiner Teil zum Hypothalamus (Synchronisierung biologischer Rhythmen mit dem Tag-Nacht-Zyklus) und

      ~10% zum Mittelhirn (colliculi superiores: Pupillenreflexe, Orientierungsbewegungen von Augen und Kopf).

      Der Großteil (~90%) zum seitlichen Kniehöcker (corpus geniculatum laterale), wo die retinale Information in sechs Schichten getrennt nach

         Auge (Schichten 1, 4, 6 kontralateral; 2, 3, 5 ipsilateral, s. Abbildungen),
  
         Gesichtsfeldhälfte (gekreuzt) und
  
         Ganglienzelltyp (M = magnozellulär - Schicht 1+2, P = parvozellulär - Schicht 3, 4, 5, 6) verarbeitet wird.
 
Schon in der Netzhaut findet sich eine Spezialisierung von Ganglienzellpopulationen:

      Der Großteil (~80%) der retinalen Information wird über das parvozelluläre System übertragen. Die kleinen, farbempfindlichen, langsam adaptierenden rezeptiven Felder projizieren auf die Kernschichten 3 bis 6 des corpus geniculatum laterale. Die Spezialisierung dieses durch hohes räumliches Auflösungsvermögen gekennzeichneten Systems betrifft das WAS: Objekt- und Detailerkennung. Das angekoppelte Analysesystem des primären visuellen Kortex betrifft dessen Schichte IVCß.

      Das magnozelluläre System (Kernschichten 1 und 2) erhält Impulse von retinalen M-Zellen, die rasch adaptieren, nicht farbempfindlich sind und über große rezeptive Felder verfügen. Es zeichnet sich durch hohe zeitliche Auflösung aus und ist der Analyse von Position und Bewegung - WO und WOHIN? - fähig. Magnozelluläre Neuronen projizieren auf die Schicht IVCα des primären visuellen Kortex.

      Non-M-non-P-Ganglienzellen in der Netzhaut projizieren auf koniozelluläre Neuronen. Diese liegen zwischen  Schichten des P- und M-Systems, projizieren auf den primären visuellen Kortex und dienen vermutlich der Farbwahrnehmung und Aspekten optisch induzierter Verhaltenssteuerung.
   
Obere Vierhügel (colliculi superiores)
s. dort

Corpus geniculatum laterale
  
Die seitlichen Kniehöcker (corpora geniculata lateralia) sind retinotop organisiert (Information aus der Netzhaut wird "geordnet" auf die Neuronen des corpus geniculatum abgebildet) und weisen einen komplexen Schichtenbau auf - magnozelluläre (M-Zell-) Schichten 1-2, parvozelluläre (P-Zell-) Schichten 3-6, dazwischen koniozelluläre (K-Zell-) Schichten für Information sowohl von bistratified Ganglienzellen als auch von Neuronen der colliculi superiores. Wozu diese Struktur? Die Information im corpus geniculatum betrifft nicht nur eine Projektion des Netzhautbildes, sondern vor allem eine Analyse der Vorgänge in der Umwelt. Alternierende Kernschichten des corpus geniculatum laterale erhalten Eingänge von Ganglienzellen in der gleich- oder gegenseitigen Netzhaut ( Abbildung), aber immer von der kontralateralen Gesichtsfeldhälfte. Diese funktionelle Strukturierung bleibt auch in der primären Sehrinde erhalten.

Feed-forward-Steuerung aus dem visuellen Kortex: Der Großteil der Projektionen auf die lateralen Kniehöcker stammt nicht von den Netzhäuten, sondern - absteigend - von Schichte VI der primären Sehrinde. Dies spricht für eine "Vorwärtskopplung" aus dem visuellen Gehirn, also einen Einfluss darauf, was oder wie aus dem Kniehöcker an die Hirnrinde gesendet werden soll.

Separate und gekreuzte Seitenprojektion: Neurone aus dem corpus geniculatum, welche Information vom linken Auge übermitteln, projizieren exquisit auf Nervenzellen in Schichte IVC einer das linke Auge betreffenden Dominanzsäule im primären visuellen Kortex. Axone dieser Neurone projizieren auf Zellen in beiden Dominanzsäulen -
in darüber sowie darunter liegende Rindenschichten. Das bedeutet, dass die Projektion bis zur Projektion in Schichte IVC seitengetrennt, die visuelle Informationsverarbeitung anschließend in der Rinde binokulär erfolgt.


Abbildung: Sehbahn
Nach einer Vorlage in Kandel / Koester / Mack / Siegelbaum (eds), Principles of Neural Sciences, 6th ed. 2021 (McGraw Hill)

Fasern von den nasalen Netzhauthälften wechseln in der Sehnervenkreuzung die Seite, Gesichtsfeldhälften (links / rechts) projizieren in die kontralaterale Sehrinde.
  
Seitlicher Kniehöcker (corpus geniculatum laterale): Schichten 1 und 2 magnozellulär, 3-6 parvozellulär (
s. dort); 1,4,6 von der Gegenseite (kontralateral), und 2,3,5 ungekreuzt (ipsilateral). Neurone von diesen Schichten im seitlichen Kniehöcker projizieren dann auf verschiedene kortikale Schichten: Die parvozelluläre Bahn auf IVCß, die magnotzelluläre auf IVCα.
  
Zwischen den Schichten 1 bis 6 liegen koniozelluläre Neuronen.
  
Calcarinarinde (rechts): Hier liegen okulare Dominanzsäulen mit komplexen Verschaltungen. Neurone der lamina VI kommunizieren mit dem nucleus geniculatum laterale; lamina V mit den colliculi superiores; lamina IV mit jeweils einem Auge; lamina III abwechselnd mit dem rechten oder linken Auge; andere mit umliegenden Rindengebieten

Das corpus geniculatum laterale empfängt nicht nur Information aus der Netzhaut, sondern vorwiegend (~80% der exzitatorischen Synapsen) Impulse aus der Sehrinde (kortikofugales System); das deutet auf intensive Modifikation der afferenten Sinnesinformation hin. Weitere Neurone haben ihren Ursprung im Hirnstamm; auf diesem Weg kann über die Aufmerksamkeit - und auch über Gefühle - beeinflusst werden, was bzw. wie wir sehen ("Top-down -Modulation").
 

Abbildung: Organisation des lateralen Kniehöckers
Nach einer Vorlage in Bear / Connors / Paradiso, Neuroscience - Exploring the Brain, 4th ed 2016

Die Inputs von den beiden Netzhäuten in das corpus geniculatum laterale erfolgt seitengetrennt - in das rechte corpus geniculatum laterale projizieren Axone vom rechten Auge (ipsilateral) in die Schichten 2, 3 und 5; das linke (kontralaterale) Auge projiziert in die Schichten 1, 4 und 6.
  
Die beiden ventral gelegenen Schichten (1 und 2) enthalten größere (magnozelluläre) Neuronen, die anderen (dorsal gelegenen) kleinere (parvozelluläre) - korrespondierend mit entsprechenden Ganglienzelltypen in der Netzhaut.
  
Ventral zu den Schichten 1-6 liegen zusätzlich kleine (koniozelluläre) Neuronen (K1-K6). Sie erhalten Impulse von Netzhautneuronen, die weder zum P- noch zum M-Typ zählen. Diese projizieren ebenfalls auf den visuellen Kortex


Von den seitlichen Kniehöckern geht das geniculostriatale System (geniculostriate pathway) aus, das auf den visuellen Kortex projiziert und als Sehbahn (radiatio optica) bezeichnet wird. Diese hat einen oberen und einen unteren Anteil; letzterer läuft um das Temporalhirn herum und wird auch als Meyer'sche Schleife
bezeichnet. Deren Beschädigung führt zu Quadrantenanopsie im oberen Gesichtsfeld der Gegenseite.
 
Primärer visueller Kortex
  s. auch dort

Nach der Informationsverarbeitung an den Kniehöckern ziehen Fasern der radiatio optica zum visuellen Kortex (Sehrinde). Hier erfolgt die Analyse der über die Sehbahn einströmenden Impulse gleichzeitig in verschiedenen Rindengebieten nach bestimmten Kriterien (Farbe, Ort, Bewegung, Gestalt), wobei die Information von beiden Netzhäuten verglichen und ein räumlicher Gesamteindruck hergestellt wird. Dabei kann das binokuläre Sehen aus Unterschieden der Repräsentation der Umwelt auf zwei Netzhäuten (Querdisparation, binocular disparity) auf zugrundeliegende räumliche Gegebenheiten rückschließen (Fusionierung, Tiefenwahrnehmung).

Der unmittelbare Adressat der Information aus der Sehbahn ist der primäre visuelle Kotex (Striatum, V1, Brodmann-Areal 17, striate cortex). Der untere Teil der primären Sehrinde empfängt Information aus der oberen Gesichtsfeldhälfte (und umgekehrt); die linke Gesichtsfeldhälfte projiziert auf das rechte Gehirn (und umgekehrt). Das Striatum enthält mehrere Typen von Neuronen - bezeichnet als einfache, komplexe und hyperkomplexe Zellen; sie alle reagieren nicht (wie Neurone im lateralen Kniehöcker) auf Lichtflecke, sondern auf Linien bestimmter Orientierung (einfache), auf Bewegung von Linien in eine bestimmte Richtung (komplexe) oder auf Linien bestimmter Orientierung und Länge (hyperkomplexe Zellen).
Funktionelle Architektur: Neurone sind in der Sehrinde nicht nur retinotop angeordnet, sondern solche mit ähnlichen funktionellen Eigenschaften in vertikalen Säulen organisiert. So sind Zellen in Orientierungssäulen gruppiert, die Richtungsempfindlichkeit ändert sich mit der Distanz zu Nachbarsäulen. Dabei weichen benachbarte Säulen in ihrer Winkelpräferenz etwas ab, und im Abstand von knapp 1 mm wiederholt sich die Richtungspräferenz (sie hat sich auf dieser Strecke um 180° gedreht). Ein Paar (links und rechts) all dieser Präferenzgebiete nennt man eine Hyperkolumne; diese enthält alle möglichen Kombinationen von Richtungspräferenzen und Augendominanzen (Links- und Rechts-Zonen liegen streifenförmig nebeneinander), wie Mikroelektroden-Ableitungen gezeigt haben. 

Retinotopie
: Die (zweidimensionale) Abbildung der Umwelt auf die Netzhaut wird auf verschiedene Strukturen im Gehirn (Vierhügel, Thalamus, diverse Großhirnrindengebiete) im Sinne einer ebenfalls zweidimensionalen "Landkarte" abgebildet - und zwar je nach Bedeutung der Lage im Gesichtsfeld jeweils unterschiedlich gewichtet, woraus sich eine Verzerrung des Umweltbildes ergibt, vergleichbar dem motorischen und sensorischen Homunculus.
  
Die (retinotop gegliederte) Abbildung der Umwelt ist insoferne verzerrt repräsentiert, als der Gegenstand der Fixation (auf die fovea centralis projiziert) größere Rindengebiete beansprucht als periphere Aspekte (cortical magnification factor): Bilder aus der fovea centralis erscheinen wesentlich stärker vergrößert als solche aus der Netzhautperipherie. Diese Verzerrung findet sich auch in den oberen Vierhügeln, dem corpus geniculatum laterale, sowie anderen mit visueller Information befassten Rindenarealen.

In diesen Gehirngebieten wird die visuelle Information teils in Serie (nacheinander - serial processing), teils parallel (gleichzeitig - parallel processing) verarbeitet. Bei jedem dieser Schritte senden Pyramidenzellen axonale Verbindungen zu anderen Kortexarealen. Neurone oberflächennaher kortikaler Schichten senden an Kortexareale höherer Ordnung; Neurone in Schichte V projizieren auf den Hirnstamm (colliculi superiores, pons); solche in Schichte VI auf Thalamus (Rückkopplung) und Rindengebiete niedrigerer Ordnung. Die Zahl der Fasern, die vom Kortex auf das corpus geniculatum laterale projizieren (absteigend), übersteigt diejenige der vom
corpus geniculatum laterale zum Kortex ziehenden (aufsteigend) um das Zehnfache - was auf eine hohe Bedeutung der Rückkopplung hinweist (die Bedeutung dieser Tatsache ist noch weitgehend unklar).

Neurone
oberflächennaher Schichten haben kleine rezeptive Felder und kümmern sich um hochauflösende Mustererkennung; solche in tieferen Schichten (z.B. V) haben größere rezeptive Felder und sind spezialisiert auf Richtungs- und Bewegungsanalyse.
 

Abbildung: Parallele Informationsverarbeitung im visuellen System
Nach einer Vorlage in Kandel / Koester / Mack / Siegelbaum (eds), Principles of Neural Sciences, 6th ed. 2021 (McGraw Hill)

Die retinale Information gelangt über drei Pfade zum Gehirn: Parvozellulär (von P- oder midget-Zellen zur Schichte IVCß), magnozellulär (von M- oder Parasolzellen zur Schichte IVCα) und koniozellulär (von zweischichtigen Ganglienzellen zu I sowie II/III in Zytochromoxydase-Blobs).
 
Der dorsale Pfad konzentriert sich auf motorische Antworten auf visuelle Reize; der ventrale Pfad befasst sich mit der Identifikation von Objekten, ihrer Form und Farbe.

Die moduläre Organisation ermöglicht hohe Effizienz bei der Informationsverarbeitung
 
Zu Rezeptoren in der Netzhaut vgl. dort

LGN = corpus genivulatum laterale, MT = mittleres temporales Areal, V = Sehrinde


Zum magno-, parvo- und koniozellulären System s. dort

Die knapp 2 mm dicke primäre Sehrinde ist nominell 6-schichtig, weist aber in Schichte IV weitere funktionelle Unterteilungen auf, was sie mindestens 9-schichtig macht (
Abbildung):

      Schicht I: Molekularschicht - enthält Axone und Dendriten ("Informationshighway"). Auf ihr liegt die pia mater, unter ihr neuronenhältige Verrechnungsschichten:

      Schicht II: Äußere Körnerschicht (Körnerzellen bilden innerhalb des Kortex synaptische Verbindungen aus)

      Schicht III: Äußere Pyramidenschicht - Pyramidenzellen senden ihre Axone aus dem visuellen Kortex hinaus (und projizieren auf andere Kortexareale)

      Schicht IV: Innere Körnerschicht - weitere Unterteilung: IVA, IVB, IVCα, IVCβ

      Schicht V: Innere Pyramidenzellschicht

      Schicht VI: Multiforme Schicht - unter ihr liegt weiße Substanz.

Der Informationsfluss folgt im Prinzip folgendem sequentiellen Muster (außer diesem Grundschema gibt es wesentlich komplexere Verschaltungen, und viele hemmende Interneurone sind involviert):

Seitliche Kniehöcker (Thalamus) → lamina IV → laminae II/III → laminae V/VI

Dabei projizieren Zellen aus lamina IV, II und III auf umliegende Kortexareale, lamina V auf die oberen Vierhügel (colliculi superiores: Augenbewegungen) sowie subkortikale Ziele (z.B. Basalganglien), und lamina VI zurück auf lamina IV und den Thalamus (corpora geniculata). Zellen in Schichten II / III und V / VI sind komplexer aufgebaut als jene in Schichte IV.

Projektionen aus dem seitlichen Kniehöcker erreichen verschiedene Schichten: Magnozelluläre Inputs gelangen zu IVCα (Zellen aus IVCα projizieren vor allem in Schichte IVB), parvozelluläre zu IVCß (Zellen aus IVCß projizieren vor allem in Schichte III) - pro Neuron jeweils von einem Auge (monokulär). Koniozelluläre Projektionen erfolgen auf Schichten I und III. (Zur Anordnung in okulare Dominanzsäulen s. weiter unten.)

Die Analyse der visuellen Information erfolgt besonders intensiv in Rindenschichten II und III. Zellen in Schichte IV erhalten Inputs jeweils nur von einem Auge; rezeptive Felder stimmen mit solchen in Netzhaut und lateralem Kniehöcker überein. In Schichte III gibt es Zonen sowohl mit Eingängen nur von einem Auge, aber auch zahlreiche mit binokulärem Eingang; hier mischt sich die Information von beiden Augen (binokulare rezeptive Felder; Integration zu einem Gesamtbild der Umwelt). Axone aus IVC innervieren dann höhergelegene Schichten und mischen die Seiteninformationen (Neuronen in Schichten III und II reagieren auf Lichteinfall in das rechte wie das linke Auge, manche gleich, andere unterschiedlich stark - sie haben binokuläre rezeptive Felder), die retinotope Ordnung bleibt dabei erhalten. Der Seitenabgleich dient der Fusionierung der beiden Retinabilder und damit der räumlichen Wahrnehmung.

Analyse und Synthese: Die Neuronen im visuellen Kortex sprechen verschieden stark auf Ein- und/oder Ausschalten von Licht in ihrem rezeptiven Feld, auf Formen von Reizmustern (Balken, Ecken,...), deren Bewegungsgeschwindigkeit und Bewegungsrichtung, sowie Farbe an. Der visuelle Kortex extrahiert aus der Gesamtheit der optischen Information unterschiedliche Aspekte:

     Orientierung (Winkellage) von Gegenständen (Neurone mit Orientierungsselektivität, Gestalterkennung - über parvozelluläres System zum Interblob pathway). Vermutlich entstehen Orientierungsselektivitäten durch die Konvergenz der synaptischen Inputs von Neuronen einer Rindenschichte (IVCß) mit in einer bestimmten Linie angeordneten rezeptiven Feldern auf "komplexe" Neuronen einer anderen Schichte (IIIB); letztere reagieren dann richtungsselektiv;

     Bewegung / Geschwindigkeit von Gegenständen (Neurone mit Richtungsselektivität - über magnozelluläres System zum Magnocellular pathway). Hier spielen Verzögerungen der Inputs von Neuronen, deren rezeptiven Felder in einer bestimmten Richtung angeordnet sind, auf komplexe Neurone eine Rolle; letztere sprechen auf eine bestimmte Verzögerungskaskade maximal an. Gruppen höherer Neurone detektieren so die Geschwindigkeit, mit der sich das Bild eines Zielobjekts über die Netzhaut bewegt;

    Farben (Neurone mit Farbselektivität - über das Non-M-non-P-Sytem zum Blob pathway).

All das geschieht gleichzeitig (parallel processing), d.h. die Information von der Netzhaut beider Augen wird in unterschiedlichen Rindenarealen nach verschiedenen Kriterien beurteilt und verglichen, inklusive die

    räumliche Tiefe (Lage der Gegenstände im Raum, Binokularsehen und Horopter s. dort). Binokulares Sehen ermöglicht die Wahrnehmung von Tiefe bzw. Entfernung, abgesehen von Hinweisen, die auch monokulär wahrgenommen werden (z.B. relative Proportionen, was auch optische Täuschungen erklären kann).

Ein Gesamteindruck des Gesehenen wird nach Analyse der Einzelkomponenten resynthetisiert. So werden Charakteristika abgebildeter Gegenstände (Länge von Linien, deren Orientierung, Winkel, Rundungen, Geschwindigkeit, Farbe) zu einem Muster kombiniert und dieses Muster mit Erinnerungsinhalten abgeglichen. Das geschieht sehr rasch, um z.B. die Silhouette und das Bewegungsmuster (Verhalten) eines gefährlichen Raubtieres von der / dem eines harmlosen Beutetieres verlässlich auseinanderhalten zu können.
  
     Die Rechenleistung des visuellen Kortex beträgt ~30% derjeniger der gesamten Hirnrinde, und rund die Hälfte der bewusst verarbeiteten Sinnesinformation ist visueller Natur.
 
Nachgeschaltete Rindengebiete
 
V1 ist der primäre visuelle Kortex (Brodmann 17). Er "sieht" aber nicht die Gesamtheit der optischen Eingänge, sondern seine tausende Module ( s. unten) analysieren jeweils einen kleinen Bruchteil davon. Erst in nachgeordneten Kortexarealem (im Okzipitallappen: extrastriate cortex, V2 bis V5) erfolgt die Kombination all dieser Einzelinformationen zu einem Gesamten - und damit die Perzeption des Gesehenen. "Assoziative" sekundäre und tertiäre visuelle Rindenfelder ( Abbildung) erstrecken sich von der unmittelbaren Nachbarschaft von V1 bis in parieto-temporale Grenzgebiete, beinhalten jeweils eine komplette und unabhängige Karte des visuellen Feldes und geben ihre "Rechenergebnisse" an die jeweils hierarchisch höhere Ebene weiter. Diese visuellen "Computer" sind auf folgende Funktionen spezialisiert:


Abbildung: Visueller Kortex
Nach einer Vorlage in Gehirn & Geist Spezial, Spektrium der Wissenschaften

Das Rindenfeld V4 liegt wahrscheinlich V2 vorgelagert und hinter der area inferotemporalis posterior

     V2 (Brodmann-Areal 18):  Visuelle Gestaltserkennung, Erkennung komplexer Formen, Tiefe, Farben (zusammen mit V1)
 
     V3 (Teile von Brodmann-Areal 19): Ausrichtung und Winkellage geometrischer Formen
 
     V3a: Bewegungs- und Richtungsanalyse
 
     V4 (Teile von Brodmann-Areal 19, medial unter V2 gelegen): Farbunterscheidung, Eingänge von farbspezifischen Neuronen in V1 und V2; Objekterkennung aufgrund von Farbinformationen
 
     V5 (Bereish des unteren sulcus temporalis oder im lateralen okzipitalen Kortex):  Bewegungserkennung (Richtung bewegter Objekte). Läsionen dieser Region können zu Akinetopsie (gestörte Bewegungswahrnehmung) führen.
 
     V6:  Tiefenbeurteilung
 
Dabei projizieren "höhere" zurück auf "niedrigere" Funktionsbenen; tatsächlich besteht enge Kooperation der Areale, die Information wechselseitig austauschen, abstimmen und das Ergebnis "beraten". Die Gesamtwahrnehmung unserer visuellen Umwelt hilft bei der Koordination der Orientierung,
Bewegungswahrnehmung und motorischen Handlungen (Blick- und Körpermotorik).
 
Die visuelle Perzeption ist wesentlich komplexer als ein schlichtes Abbild der Netzhautprojektion: Der primären Sehrinde nachgeordnet sind etwa zwei Dutzend weitere Rindengebiete, welche retinotope Karten der Umwelt enthalten und der Analyse der visuellen Welt dienen (extrastriatale Areale). Verschiedene Rindenareale sind unterschiedlicher Leistungen fähig: Analyse von Formen (parvozellulärer Pfad), Bewegungen (Richtungsempfindlichkeit: magnozellulärer Pfad), Farben u.a. Die umfassende Bildanalyse erfolgt im Okzipital-, Parietal- und Temporallappen. XIV.6.htm#Perimetrie

Die Bearbeitung der visuellen Inputs (visual processing) erfolgt dabei im Zuge von zwei Systemen, die zum Großteil in der area V2 entspringen und von hier aus divergieren (einige Fasern nehmen andere Wege, projizieren z.B. von V1 direkt auf V5):
 
     Der dorsale Weg (dorsal stream) zum posterioren parietalen Kortex - Wo-Bahn: Analyse der Objektposition relativ zum Betrachter, von Bewegung (Rindenfeld V5) - auch Eigenbewegung! - und Tiefe; Planung der Motorik in Relation zum gesehenen Objekt (Steuerung von Sakkaden); korrespondiert hauptsächlich mit dem magnozellulären System

     Der ventrale Weg (ventral stream) zum unteren temporalen Kortex - Was-Bahn: Identifikation (Erkennung) gesehener Objekte, Analyse von Form und Farbe.

Zum "WO"- und "WAS"-System vgl. dort
 
Bei Kindern (18 bis 30 Monate alt) scheint die Verknüpfung dieser Informationsflüsse noch nicht ausgereift zu sein, was zu mangelnder Kombination von Daten führt, die separat über den ventralen und den dorsalen Weg bearbeitet werden.

 


Abbildung: Lage des gyrus fusiformis
Nach einer Vorlage in Gray's Anatomy,  Elsevier / Churchill Livingstone

Der gyrus fusiformis analysiert körperliche Charakteristika betrachteter Personen, insbesondere solche deren Gesichts(ausdrucks) - daher die Bezeichnung fusiform face area (FFA). Diese Region ist eines der Projektionsgebiete des ventralen (temporalen) Pfades des visuellen Systems. Unmittelbar posterior davon (teils überlappend) liegt die extrastriate body area (EBA), sie wird durch Bilder von Körperteilen (nicht Gesichtern) angeregt.
 
Läsionen der FFA können zu Prosopagnosie
führen, d.h. zur Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen

Ein Teil des unteren Randes des Schläfenlappens (der gyrus fusiformis , Abbildung) ist auf Gesichtskennung und die Analyse anderer Körpermerkmale spezialisiert, eine Störung dieser Fähigkeit wird als Prosopagnosie bezeichnet. Diese Windung erkennt auch Worte und verarbeitet Farbinformation. Schwächen der Gesichtserkennung treten in mehreren Formen auf (kongenital, assoziativ, apperzeptiv) und betreffen mindestens zwei von hundert Menschen.

Aus V1 gelangen Impulse in andere Regionen über Neurone der Pyramidenzellen. Je nachdem, in welcher Rindenschicht diese liegen, innervieren sie entsprechende Gebiete:

     Neurone aus Schichte II bis IV innervieren andere Rindengebiete;
  
     solche aus tieferen Schichten stellen die Verbindung zu extrakortikalen Hirnteilen her (z.B. aus V zu colliculi superiores und pons, aus VI zu corpus geniculatum laterale).

Alle Pyramidenzellen stellen lokale Verbindungen zu direkt benachbarten Rindenarealen her.

 
Die Gehirnrinde verarbeitet retinale Information in modularen Einheiten
 
Der primäre visuelle Kortex (area 17, V1) hat eine besondere Zytoarchitektur. Die im corpus geniculatum laterale bestehende Spezialisierung bleibt erhalten, was durch transneuronale Autoradiographie nachweisbar ist und im Kortex ein typisches Streifenmuster (der Radioaktivität) ergibt.

Transneuronale Autoradiographie ist die experimentelle Injektion einer radioaktiv markierten Aminosäure ins Auge eines Versuchstieres; Ganglienzellen in der Netzhaut nehmen diese auf und verwenden sie für die Synthese von Proteinmolekülen, welche im corpus geniculatum laterale und dann über zugeordnete zweite Neuronen nach etwa zwei Wochen im visuellen Kortex anlangen.
 

Abbildung: Schematische Darstellung eines Moduls in der primären Sehrinde
Nach einer Vorlage in Carlson NR / Birkett MA, Physiology of Behavior, 12th ed. Pearson 2017

Der visuelle Kortex ist in etwa 2500 sogenannte Module organisiert, bestehend jeweils aus ~105 bis einigen 106 Neuronen. Jedes Modul analysiert (wie einen Teil eines Mosaiks) verschiedene Charakteristika eines kleinen Ausschnitts aus dem Gesichtsfeld, erhält Impulse aus Nachbarmodulen und leitet seine Berechnungen an andere Module weiter. Zusammen ergeben sich daraus Informationen über das gesamte visuelle Umfeld.
  
Module bestehen aus zwei Segmenten, jeweils um einen Blob orientiert. Module erhalten separat Information vom linken und rechten Auge, im Modul werden diese Informationen dann kombiniert (die Mehrzahl der Neuronen im Modul funktioniert binokular).
  
Durch alle Schichten der Module ziehen sich säulenförmige Zonen bestimmter Richtungsspezifität (Orientierungssäulen), wobei der Winkel der höchsten Empfindlichkeit jeweile um einen geringen Betrag von dem der Nachbarsäulen abweicht (folgende Abbildung). Die meisten Neurone der Sehrinde (area striata) sind orientierungsempfindlich.
  
Eingänge von parvozellulären, magnozellulären und koniozellulären Schichten des corpus geniculatum laterale werden auf unterschiedliche Schichten des visuellen Kortex projiziert (s. oben): Koniozelluläre auf Schichten 2 und 3, magnozelluläre auf 4Cα, parvozelluläre auf 4Cß.
  
Blobs (engl. Tröpfchen, Kleckse) sind säulenförmige Teile des visuellen Kortex, die durch in-vivo-Markierung mit Cytochromoxidase (CO, daher auch als CO-blobs bezeichnet) dargestellt werden können. Sie erstrecken sich über die laminae 2 und 3 sowie (weniger ausgeprägt) in laminae 5 und 6.
  
Blobs erhalten Impulse von parvozellulären Neuronen in Schichte IVCβ und projizieren auf V2. Ihre Neurone verarbeiten abwechselnd Information vorwiegend von der linken, rechten, oder von beiden Netzhäuten und verhalten sich farbempfindlich.
  
Interblobs sind dazwischenliegende Areale, die orientierungsempfindlich sind und auch auf Bewegung und binokuläre Disparationen (nicht aber auf Farbe) ansprechen

Die Sehrinde ist komplex organisiert:

     Neuronen sind zu sechsschichtigen (I-VI) kortikalen Säulen (2 mm hoch, 0,5 mm Durchmesser) geordnet (
Abbildung). Die meisten Säulen sind richtungsspezifisch, sie reagieren vorzugsweise auf Linien mit einer bestimmten Ausrichtung ( Abbildung):
 

Abbildung: Orientierungsempfindlichkeit eines Neurons in der Sehrinde
Nach Hubel DH, Wiesel TN: Receptive fields of single neurones in the cat's striate cortex. J Physiol 1959; 148: 574-91

Das Neuron spricht an, wenn ein linienförmiges Abbild in seinem rezeptiven Feld auftaucht. In diesem Beispiel ist die Vorzugsorientierung vertikal.
 
Je stärker der Winkel der retinal abgebildeten Linie von der Vorzugsrichtung des Neurons abweicht, desto geringer wird seine Entladungsrate (Aktionspotentialfrequenz). Auf hotizontal liegende Linien spricht das Neuron überhaupt nicht an


Diese Säulen nennt man Orientierungssäulen: Wir erfassen die Umwelt als ein System von Linien mit bestimmter Orientierung. Einige Säulen werden als Blobs (mit Cytochromoxidase markierbar, daher auch CO-blobs) bezeichnet: Sie sind farbselektiv, aber nicht richtungsspezifisch. Dazwischen liegende Regionen (Interblobs) sind nicht farbempfindlich, sprechen aber auf Orientierung im Raum, binokuläre Unterschiede (Querdisparation) und Bewegungen an.

     Benachbarte kortikale Säulen (Orientierungssäulen unterschiedlicher Richtungsspezifität und Blobs) verarbeiten Information vom identischen Netzhautort und sind zu okulären Dominanzsäulen gruppiert. Da beim binokularen Sehen jedem Ort in der Umgebung zwei Netzhautorte entsprechen (linke und rechte Retina), gibt es entsprechend jeweils zwei okuläre Dominanzsäulen. Diese liegen im visuellen Kortex nebeneinander und werden zu Hyperkolumnen oder kortikalen Modulen (~2 x 2 mm) zusammengefasst - Gruppen kortikaler Säulen, die für eine Stelle des Gesichtsfeldes stehen.

     Ein kortikales Modul betrifft die Gesamtheit der optischen Eigenschaften (Form, Bewegung, Farbe) eines Objekts in der Umwelt; es erhält Zufluss sowohl vom P- (Farbe, Form) als auch vom M-System (Bewegung) der betreffenden Netzhautorte. Sein Ausfall macht die visuelle Analyse dieses Ausschnitts unserer Umgebung unmöglich.

 

  Abbildung: Aufgeklappter visueller Kortex
Modifiziert nach einer Vorlage in Boron W, Boulpaep E: Medical Physiology. Philadelphia, Saunders, 2003

Darstellung analog der Abbildung oben, aber mit zwischen laminae III und IV "aufgeklapptem" Kortex.
  
Erkennbar ist ein streifenförmiges Muster in lamina IV, das der wechselseitigen Projektion von Arealen der linken und der rechten Retina (schwarze und hellgraue Streifen) entspricht (experimenteller Nachweis im Tierversuch: in-vivo-Markierung mit radioaktivem Prolin)


Die Verarbeitung der Information erfolgt nach folgenden Ordnungsprinzipien:

  
  Neurone der lamina IV (C) erhalten - über den Thalamus - Inputs von jeweils nur einem Auge (Streifenmuster in der Abbildung), während Neurone in den übrigen Schichten von beiden Augen innerviert sind
 
     Neurone der lamina V kommunizieren mit Neuronen in den oberen Vierhügeln und in der Pons
 
     Neurone der lamina VI kommunizieren mit Neuronen im nucleus geniculatum laterale des Thalamus
 
     Neurone der lamina III und IV B kommunizieren mit Neuronen anderer kortikaler Gebiete
 
     Neurone der lamina III enthalten okuläre Dominanzsäulen, die jeweils dem rechten oder linken, und dazwischen solche, die etwa gleichwertig beiden Augen zugeordnet sind

Auf diesen Ordnungsprinzipien bauen funktionelle Spezialisierungen auf, z.B. betreffend rezeptive Felder (von unterschiedlicher Komplexität: Von "einfachen", die z.B. einen Balken erkennen, bis zu komplexen, die z.B. auf ein bestimmtes Gesicht ansprechen), Orientierungsselektivität, binokuläres Sehen etc. Die Information von beiden Augen wird abgeglichen und zusammengeführt (fusioniert).


Die Gesamtheit der Orientierungs- und Dominanzsäulen, die einer bestimmten Stelle im Gesichtsfeld entspricht, wird als kortikales Modul bezeichnet (Abbildungen). Der primäre visuelle Kortex enthält wahrscheinlich ~1000 kortikale Module (sofern diese Abstraktion zulässig ist).



An Gehirnen von Katzen und Affen untersuchten die Amerikaner David Hubel und Torsten Wiesel die Funktionsweise der Sehrinde. Dabei fanden sie Sehfelder unterschiedlicher Funktion und beschrieben die Hauptverarbeitung im primären Sehfeld V1 (Retinabild). Sie konnten zeigen, wie bestimmte Neuronengruppen auf sehr spezifische Reize (z.B. Linien und Winkel definierter Orientierung) reagieren und stießen auf den Streifenaufbau des visuellen Kortex (abwechselnd vom rechten bzw. linken Auge). Informationen wie Form, Farbe oder Bewegung werden getrennt verarbeitet. "Für ihre Entdeckungen über Informationsverarbeitung im Sehwahrnehmungssystem" erhielten sie 1981 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin (geteilt mit Roger Sperry - "split brain").
 
Mehr zur Physiologie des Okzipitallappens s. dort
  

Über visuelle evozierte Potentiale s. dort
 

 
Störungen der Farbwahrnehmung können durch Defekte in V1 (kortikale Farbenblindkeit, Achromatopsie) und V4 (Farbenagnosie) auftreten. Störungen im Bereich des Parietal- oder Temporalkortex (V5) können gestörte Bewegungswahrnehmung (Akinetopsie ) bedingen; Patienten erleben u.U. einen Stabilitätsverlust ihrer visuellen Umwelt bei Eigenbewegungen (sehr selten). Defekte im Parietallappen können auch zu visuellem Hemineglekt führen, bei dem die betroffene Hälfte von Körper und Umwelt nicht mehr wahrgenommen wird.

Über Perimetrie (Ausmessung des Gesichtsfeldes) s. dort
 

 
      ~90% der Fasern des tractus opticus ziehen zum corpus geniculatum laterale. Die retinale Information wird in sechs Schichten teils gekreuzt, teils ungekreuzt abgebildet - getrennt nach Gesichtsfeldhälfte (gekreuzt), Auge (Schichten 1,4,6 kontralateral; 2,3,5 ipsilateral) und Ganglienzelltyp (M = magnozellulär - Schicht 1+2, P = parvozellulär - Schicht 3,4,5,6). ~10% projizieren auf die colliculi superiores (Pupillenreflexe, Orientierungsbewegungen von Augen und Kopf). Ein kleiner Teil zieht zum Hypothalamus (Synchronisierung biologischer Rhythmen mit dem Tag-Nacht-Zyklus) 
 
      Das parvozelluläre System (P: kleine, farbempfindliche, langsam adaptierende rezeptive Felder) überträgt ~80% der retinalen Information auf die Kernschichten 3-6 des corpus geniculatum laterale (hohes räumliches Auflösungsvermögen, Objekt- und Detailerkennung). Es kommuniziert mit Schichte IVCß des primären visuellen Kortex
 
      Das magnozelluläre System (M: große, nicht farbempfindliche, rasch adaptierende rezeptive Felder) projiziert auf die Kernschichten 1 und 2 des corpus geniculatum laterale (hohe zeitliche Auflösung, Analyse von Position und Bewegung). Es kommuniziert mit Schichte IVCα des primären visuellen Kortex
 
      Non-M-non-P-Ganglienzellen der Netzhaut projizieren auf koniozelluläre Neuronen zwischen Schichten des P- und M-Systems, und diese auf den primären visuellen Kortex (optisch induzierte Verhaltenssteuerung)
 
      Das Netzhautbild wird auf Vierhügel, Thalamus, Großhirnrinde abgebildet (Retinotopie) - je nach Bedeutung der Lage im Gesichtsfeld unterschiedlich gewichtet. Die primäre Sehrinde besteht aus I: Molekularschicht ("Informationshighway"), II: äußerer Körnerschicht, III: äußerer Pyramidenschicht (Projektion auf andere Kortexareale), IV: innerer Körnerschicht (IVA, IVB, IVCα, IVCβ), V: innerer Pyramidenzellschicht und VI: multiformer Schicht
 
      Magnozelluläre Afferenzen gelangen zu IVCα (diese projiziert auf IVB), parvozelluläre zu IVCß (diese projiziert auf III) - pro Neuron jeweils von einem Auge. Zellen in Schichte IV erhalten Inputs jeweils einseitig, solche in Schichte III haben teils monokulären, teils binokulären Eingang. Neuronen in Schichten II und III haben binokuläre rezeptive Felder, die retinotope Ordnung bleibt erhalten. Der Seitenabgleich dient der räumlichen Wahrnehmung
 
      Neurone in IV (C) erhalten Inputs von jeweils nur einem Auge, alle anderen von beiden Augen. Lamina V kommuniziert mit den oberen Vierhügeln und der Pons, lamina VI mit dem nucleus geniculatum laterale, lamina III und IV B mit anderen kortikalen Gebieten. Lamina III enthält okuläre Dominanzsäulen, die jeweils dem rechten oder linken, und dazwischen solche, die beiden Augen zugeordnet sind
 
      Der visuelle Kortex extrahiert aus der Gesamtheit der optischen Information unterschiedliche Aspekte: Orientierung und Gestalt von Gegenständen (parvozelluläres System), Bewegung von Gegenständen mit Richtungsselektivität (magnozelluläres System), Farben (Neurone mit Farbselektivität über Non-M-non-P-Sytem zum Blob pathway). Nach Analyse der Einzelkomponenten entsteht ein Gesamteindruck. Der visuelle Kortex erbringt ~30% der Rechenleistung der gesamten Hirnrinde, rund die Hälfte der bewusst verarbeiteten Sinnesinformation ist visueller Natur
 
      Nachgeschaltet sind assoziative visuelle Rindenfelder: V2 für visuelle Gestaltserkennung; V3 analysiert Formen, V3a Bewegung und Richtung; V4 unterscheidet Farbunterscheidung und erkennt Objekte nach Farbe; V5, Bewegungserkennung; V6, Tiefenbeurteilung. Die Gesamtwahrnehmung hilft bei Orientierung, Bewegungswahrnehmung, Blick- und Körpermotorik. Weitere Rindengebiete analysieren die visuelle Umwelt nach Formen (parvozellulärer Pfad), Richtung von Bewegungen (magnozellulärer Pfad), Farben. Umfassende Bildanalyse erfolgt im Okzipital-, Parietal- und Temporallappen. Hauptpfade für die Informationsverarbeitung sind der dorsale Weg zum Parietalkortex ("wo?") und der ventrale Weg zum Temporalkortex ("was?")
 
      Kortikale Säulen sind - meist richtungsspezifische - Prozessoren des visuellen Kortex. Orientierungssäulen erfassen die Umwelt als ein System von Linien mit bestimmter Orientierung. Blobs sind farbselektive, nicht richtungsspezifische Säulen. Benachbarte Orientierungssäulen und Blobs verarbeiten Information vom identischen Netzhautort und sind zu okulären Dominanzsäulen gruppiert. Jedem Ort in der Umgebung entsprechen zwei Netzhautorte (linke und rechte Retina) und zwei okuläre Dominanzsäulen, die im visuellen Kortex nebeneinander liegen, Hyperkolumnen (kortikale Module, ~2 x 2 mm) bilden und für eine Stelle des Gesichtsfeldes stehen
 
      Der gyrus fusiformis am unteren Rand des Schläfenlappens ermöglicht Gesichtskennung, eine Störung dieser Fähigkeit heißt Prosopagnosie
 

 




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